Das sechste Herz
Plätzchen.
»Jetzt, wo Sie es sagen, erinnere ich mich an diese Therapie. Frau Geroldsen war zu Beginn der Behandlung sogar in der Schule und hat mir ganz stolz berichtet, dass sich nun alles richten werde. Sie sei optimistisch, dass sich Magnus’ aggressives Verhalten gegenüber Mitschülern und Lehrern und auch sein Hang zum Lügen schnell bessern würden.« Gudrun Wendelstein schniefte, kramte in der Tasche ihrer Strickjacke, brachte ein Tempo zum Vorschein und schnaubte dann heftig hinein, ehe sie weitersprach. »Wir hofften das im Übrigen auch. Alle hofften das. Die Kollegen, die Mitschüler, die anderen Eltern. Wer weiß, was aus dem Jungen geworden wäre, wenn seine Mutter diese Therapie nicht unvermittelt abgebrochen hätte. Da muss der Vater dahintergesteckt haben. Der hatte wohl kein Interesse daran, dass sein Sohn Interna aus dem Familienleben ausplauderte. Und so setzte sich Magnus’ Fehlverhalten unkontrolliert fort, wurde schlimmer und schlimmer. Ich weiß von meinen Kollegen, dass er kurz vor der Versetzung an eine andere Schule stand, bevor er … bevor er …« Sie konnte den Satz nicht beenden. Lara stützte die Ellenbogen auf und verschränkte die Finger ineinander.
Jetzt kam die alles entscheidende Frage. »Kennen Sie den Namen des Therapeuten?« Lass es sie wissen , flehte sie im Stillen, bitte lass es sie wissen.
»Zufällig weiß ich es.« Die Lehrerin lächelte ein trauriges Lächeln. »Wir hatten nämlich vor Magnus schon zwei andere Fälle, die dort in Behandlung waren und gute Erfahrungen gemacht hatten. Im Gegensatz zu ihm.« Sie machte eine kurze Pause und fuhr dann fort. »Es war allerdings kein Therapeut.«
Lara sah, wie Jos Augenbrauen sich in der Stirnmitte zusammenzogen und er den Kopf schief legte, als höre er nicht richtig. Gudrun Wendelstein schien davon nichts mitzubekommen. Sie blickte in die Ferne. Ihre Finger kneteten das Wachs, das sie vom Rand der Kerze abgerissen hatten.
»Sondern eine Therapeutin.«
»Wie hieß sie?« Lara konnte nicht mehr stillsitzen. In ihren Beinen zuckte es, sie schob die Füße über die Fliesen und hörte das leise Quietschen, das die Sohlen der Pantoffeln dabei verursachten.
»Irgendwas Französisches. Lassen Sie mich überlegen …«
»French?«
Die Augen der Lehrerin leuchteten auf. »Das ist es! Frau Doktor French. Kennen Sie sie etwa?«
»Oh mein Gott.« Lara sah Jo an. Er hatte die Augen weit aufgerissen. Jetzt schüttelte er sich, schob den Teller mit dem letzten Plätzchen von sich weg und stand auf. »Bitte entschuldigen Sie, Frau Wendelstein, aber wir müssen los.«
»So plötzlich? Habe ich etwas Falsches gesagt?«
»Nein, keinesfalls.« Auch Lara erhob sich. »Das war alles sehr interessant für uns.« Den nächsten Satz verkniff sie sich: Besonders die letzte Information. »Aber mein Kollege hat recht. Es ist Zeit, dass wir gehen. Vielen Dank für den Glühwein und …«, sie blickte kurz zu Jo, »die Plätzchen.«
»Wenn Sie denken …« Die alte Frau folgte ihnen in den Flur und sah zu, wie sie in ihre Schuhe schlüpften.
Lara nahm sich nicht einmal Zeit, die Jacke anzuziehen. »Also danke noch mal, Frau Wendelstein! Sie haben uns sehr geholfen! Ich rufe Sie an!« Sie hetzte Jo nach, der sich nicht einmal verabschiedet hatte. Die verblüfften Blicke der alten Frau verfolgten sie bis zu Jos Auto.
*
In Laras Kopf wirbelte ein Sturm alle Gedanken durcheinander. Sie hatten doch erst gestern mit dieser French geredet. Und wenn sie sich recht entsann, hatte Jo dabei auch die Therapie von Magnus Geroldsen angesprochen. Warum hatte die Ärztin ihnen da nicht gesagt, dass sie die Therapeutin von Magnus gewesen war? Hatte sie Angst gehabt, in die Sache verwickelt zu werden, oder steckte etwas ganz anderes dahinter? »Jo, halt an! Wo willst du eigentlich in diesem Affenzahn hin?«
»Weiß ich auch nicht. Ich muss nachdenken.«
»Ich auch. Aber nicht, während du hier mit achtzig durch die Stadt heizt.«
»Hast recht.« Jo bremste so heftig, dass Laras Kopf nach vorn geschleudert wurde, fuhr an eine Bushaltestelle und hielt. »Lass uns zusammen nachdenken.«
»Ich muss mein Diktiergerät abhören, um sicher zu sein.« Lara warf die Gegenstände aus ihrer Umhängetasche einfach auf den Rücksitz. »Hoffentlich habe ich es … hier ist es ja!« Sie rief den Ordner mit dem gestrigen Gespräch auf und ging auf Anfang. Stumm lauschten sie dann der kühlen Stimme von Agnes French.
»Halt. Spul zurück.« Jo räusperte sich.
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