Das sechste Herz
Stille am Tisch, doch Gudrun Wendelstein fing sich erstaunlich schnell wieder.
»Der Vater ist auch tot?«
»Gestern haben wir erfahren, dass er ermordet wurde. Wir kennen jedoch keine Details. Dabei schien er sich nach Marks Angaben auf dem Weg der Besserung zu befinden, trank nicht mehr, hatte gerade eine Wohnung bekommen und Aussicht auf Arbeit.«
»Um den ist es nicht schade.« Ein harter Zug hatte sich in das Gesicht der Lehrerin geschlichen, und jetzt konnte man sehen, dass sie nicht nur mütterlich, sondern auch streng sein konnte.
»Das klingt gefühllos, ich weiß. Und normalerweise gönne ich niemandem etwas Schlechtes. Aber Magnus Geroldsens Vater war ein Despot. Ich habe mehrere Jahre lang miterlebt, wie der Mann Frau und Kinder tyrannisiert und ihre Bedürfnisse ignoriert hat. Das ging die ganze Zeit so. Für das Verhalten der Kinder gab es strenge Regeln, und wehe, sie vergaßen, sich danach zu richten. Dann wurden sie mit drakonischen Strafen bedacht. Das waren nicht unbedingt körperliche Züchtigungen, wenn Sie verstehen, was ich meine, so etwas hinterlässt ja Spuren am Körper. Nein, er hat ihre Seelen nachhaltig geschädigt. Die Kinder wurden tagelang wie Gefangene eingesperrt, mussten unsinnige Verhaltensmaßregeln auswendig lernen und auf Kommando aufsagen, er erteilte ihnen Schlafverbot und entzog ihnen seine Aufmerksamkeit. Und das war sicher nur die Spitze des Eisberges, denn ich konnte nur ab und an einen Blick hinter die bürgerliche Fassade erhaschen. Für mich ist der Vater mitschuldig an allem, was damals passiert ist.«
»Woher wissen Sie das alles?«
»Wie könnte ich den Fall jemals vergessen. Wie könnte ich Magnus und seine Geschwister vergessen …« Gudrun Wendelstein drückte gedankenverloren den Wachsrand einer Kerze nieder, die in einem handgetöpferten Leuchter auf dem Tisch stand. »Manchmal ist den Kindern etwas herausgerutscht. Sarah, die Zweitälteste, war ja dann auch bei uns an der Schule. Die beiden Kleinen dagegen kenne ich nur vom Erzählen.«
»Wie lange haben Sie Magnus unterrichtet?«
»Drei Jahre lang. Bis zur Neunten. Dann bin ich pensioniert worden.«
»Dann kennen Sie ihn und die Familie genauer?« Der winzige Funken Hoffnung in Lara, der schon erloschen zu sein schien, glimmte wieder auf.
»So gut, wie man jemanden kennen kann, der sich nicht in die Karten schauen lässt. Der einzige Kontakt zum Elternhaus ergab sich durch Magnus’ Mutter Regine. Sie besuchte die Elternabende und bemühte sich, mit uns zusammenzuarbeiten. Sie hat die Kinder auch stets in Schutz genommen, aber wahrscheinlich war sie zu schwach, um gegen den Tyrannen anzukommen. Ich gehe davon aus, dass der Vater auch sie massiv unterdrückt hat.« In einem anderen Raum begann ein Telefon zu läuten, aber die Lehrerin machte keine Anstalten, sich zu erheben. »Sie gehen davon aus, dass Magnus etwas mit den neuen Morden in Leipzig zu tun hat? Aber ist er nicht seit zehn Jahren in der Psychiatrie?«
»Er selbst kann die Taten nicht begangen haben, weil er, wie Sie richtig bemerkt haben, noch immer gut bewacht im Maßregelvollzug sitzt. Unser Freund Mark Grünthal ist der Ansicht, dass jedoch alles seinen Anfang in Magnus’ Kindheit oder Jugend genommen hat. Es könnte sein, dass er bereits in jungen Jahren jemanden kennenlernte, mit dem er später bei der Tat zusammengearbeitet hat; ich nenne es mal einen ›Lehrmeister‹, also einen Komplizen, der älter war und schon ausgeprägte Gewaltfantasien hatte, die er mit Magnus als seinem Schüler realisieren konnte. Später hat dieser Komplize dann vielleicht Magnus die alleinige Schuld in die Schuhe geschoben.«
»Wo könnte der Junge denn so jemanden getroffen haben? Und warum sollte er bis heute darüber schweigen? Inzwischen ist er doch erwachsen und müsste zu der Einsicht gekommen sein, dass ihn die Existenz eines Komplizen entlasten könnte.«
»Warum er sich dazu nicht äußert, wissen wir auch nicht. Das Ganze ist ja auch eine sehr gewagte Theorie. Es könnte zum Beispiel eine tiefe emotionale Bindung zu dem Lehrmeister bestanden haben. So etwas hat es alles schon gegeben. Soweit wir wissen, hat Magnus Therapiestunden bei einem Kinder- und Jugendpsychiater besucht. Wir denken, dass er vielleicht dort jemandem begegnet sein könnte …« Lara betrachtete den dunkelroten Rand in ihrer Tasse und wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. Der Glühwein hatte ihr Gesicht erwärmt. Jo griff nach dem vorletzten
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