Das sechste Herz
Dann sagte die Ärztin: »Ich habe den Schlachter-Fall nur am Rande verfolgt, weil ich weder einen Fernseher noch viel Zeit für solche Dinge habe.«
»Sie lügt. Im nachfolgenden Gespräch hat sich doch deutlich herausgestellt, dass sie alle Details kennt.«
»Richtig, aber ich suche noch etwas anderes.« Lara drückte den Startknopf, und das Gespräch ging weiter. »Hier müsste es kommen. Du hast ihr erzählt, dass Magnus schon als Jugendlicher in Therapie war und Mark hoffte, den Therapeuten von damals zu finden, um ihn befragen zu können. Und sie hat getan, als wüsste sie von nichts.«
In die atemlose Stille hinein sagte Agnes French: »Ich bin der Meinung, das bringt nichts. Denken Sie wirklich, dass Sie dort etwas erfahren? Das Ganze muss mindestens zwölf, dreizehn Jahre her sein! Selbst wenn Sie den ehemaligen Therapeuten finden, wird der Ihnen keine Auskunft geben.«
Lara hielt die Aufzeichnung an und blickte zu Jo. Seine Pupillen waren geweitet. Er flüsterte: »Denkst du das Gleiche wie ich?«
»Es gibt eigentlich keine andere Erklärung.« Lara hatte plötzlich einen Kloß im Hals. »Stell dir vor, wir sind womöglich schuld am Tod von Wulf Geroldsen!« Jo schüttelte ungestüm den Kopf, aber sie sprach trotzdem weiter. »Agnes French wusste zwar, dass Mark den Vater von Magnus aufgespürt und mit ihm gesprochen hatte, aber erst wir haben sie in unserem Gespräch darauf hingewiesen, dass Mark dabei von Magnus Geroldsens Therapie erfahren und uns gebeten hat, den Vater noch einmal aufzusuchen. Und jetzt ist Wulf Geroldsen plötzlich tot!«
»Ich mag eigentlich gar nicht weiter darüber nachdenken. Mir macht das Ganze Angst.«
Lara hörte Jos Erwiderung gar nicht. In ihrem Kopf waren plötzlich alle Puzzleteile zusammengefallen und ergaben nun ein Bild. Die Sätze sprudelten nur so aus ihr heraus.
»Wahrscheinlich ist sie davon ausgegangen, dass Wulf Geroldsen der Einzige ist, der noch wissen konnte, dass sie damals die Therapie durchgeführt hat. Dass du und ich Marks gesamte Akten haben, darunter auch sein Gutachten für das Gericht; dass er beim Prozess alles akribisch mitgeschrieben hat und wir nicht aufgeben werden und die Zeugen von damals aufsuchen, konnte sie nicht wissen.« Lara schnappte schnell nach Luft und fuhr dann fort. »Also muss sie sich gedacht haben, wenn der Vater weg ist, ist die Sache aus der Welt. Niemand wäre dann mehr übrig, der von den Ereignissen in Magnus’ Kindheit wusste. Es war ja auch nicht zu erwarten, dass sich diese Lehrerin so genau an alles erinnern würde!« Sie packte Jos Arm und drückte ihn. »Ich muss ihr Blumen schicken. Ohne Gudrun Wendelstein wären wir nie auf den wahren Dreh hinter der Sache gekommen!«
»Denkst du tatsächlich, Agnes French hat Wulf Geroldsen umgebracht? Sie ist klein und zierlich, wie sollte es ihr gelungen sein, ihn zu überwältigen?«
»Ich glaube nicht mal, dass sie es eigenhändig erledigt hat. Sie muss einen Handlanger haben, einen, der für sie die Drecksarbeit erledigt. Vielleicht ist es dieser André Mann. Als du den gestern erwähnt hast, war in ihren Augen ganz kurz etwas zu erkennen – Angst? Wut? Ich kann es im Nachhinein nicht definieren, aber sie hat auf den Namen reagiert. Vielleicht hat sie Mann sogar geholfen zu entkommen, damit er draußen für sie agieren kann. Und Studer war auch in Obersprung! Den könnte sie auch beeinflusst haben!«
»Deine Fantasie macht jedem Thrillerautor Ehre, Lara.« Jo fasste ihre Hand und drückte sie. »Aber das Ganze hat einen entscheidenden Schwachpunkt: das Motiv. Warum das alles? Welchen Grund sollte Agnes French haben, all das zu planen und durchzuführen?«
»Es muss mit Mark zusammenhängen. Erinnere dich bloß mal an ihr unterkühltes Getue gestern. Sie hat nicht den Eindruck erweckt, dass sie ihm helfen oder uns unterstützen will.« Genau wie am Vortag brodelte der Zorn wieder in Laras Adern auf.
»Das klingt einleuchtend. Und doch kann ich mir nicht vorstellen, dass diese hübsche Person etwas mit der Sache zu tun hat.«
»Wenn eine schöne Frau im Spiel ist, seid ihr doch alle mit Blindheit geschlagen! Mensch Jo, schalte dein Gehirn ein! Die Tatsachen sprechen für sich.«
»Bis jetzt ist alles Theorie, aber gut. Nehmen wir einmal an, dass dein Konstrukt stimmt. Was denkst du, plant Agnes French als Nächstes?«
»Ich hoffe, gar nichts. Wenn es ihr Ziel war, Mark das alles anzulasten, hat sie gute Karten. Er sitzt in Untersuchungshaft, es gibt sogar
Weitere Kostenlose Bücher