Das sechste Herz
nicht schon gestern Abend am Telefon sagen können, dass er nichts weiß? Bestellt uns hierher, nur um uns mitzuteilen, dass er sich an nichts mehr erinnern kann, weil das Ganze schon so lange her ist. Der war wohl bloß neugierig, wie zwei Journalisten aus Sachsen aussehen! Wir vergeuden hier unsere kostbare Zeit, und dem ist das völlig egal. So ein Idiot! Er sollte selbst an diesem Fensterkreuz hängen, nicht dieser absurde Weihnachtsmann!« Ein Geräusch vom Fahrersitz ließ sie hinüberblicken. Jo hatte die Hand vor den Mund gelegt und versuchte krampfhaft, ein Lachen zu unterdrücken.
»Du bist unwiderstehlich, wenn du schimpfst wie ein Rohrspatz.«
»Aber ich habe doch recht!« Lara schlug die Faust auf das Armaturenbrett und musste dann selbst lachen. Gleich darauf wurde sie wieder ernst. Es gab keinen Anlass zur Fröhlichkeit. Mark saß immer noch in U-Haft, und sie hatten nicht den Hauch einer Spur, geschweige denn eine Ahnung, wie ihm zu helfen war. »Los, lass uns zu dieser Lehrerin fahren. Wie hieß sie noch gleich?«
»Gudrun Wendelstein.«
»Genau. Fahr endlich los!« Ein Stoß mit dem Ellenbogen und schon reagierte Jo und gab Gas.
»Das sieht doch schon anders aus.« Lara wollte die Hoffnung nicht aufgeben, dass sie heute noch eine Spur finden würden, mit der sie Mark helfen könnten. Und wenn der Strohhalm, an den sie sich klammerte, nur in dem Aussehen des Hauses bestand, vor dem sie jetzt parkten. Im Gegensatz zu der amerikanischen Dekoration des unwirschen Lehrers eben herrschte hier stille Genügsamkeit. Im großen Terrassenfenster stand ein Lichterbogen, und an der Tür hing ein Adventskranz aus Zweigen und Zapfen. Keine Drahthirsche, keine Leuchtschläuche. Jo war schon zum Tor gegangen, und Lara beeilte sich, ihm zu folgen. »Wohnen eigentlich alle Lehrer in Einfamilienhäusern?«
»Soll das ein Scherz sein? Die Frage kannst du dir doch wohl selbst beantworten.« Jo drückte auf den Klingelknopf.
»Ich versuche, mich abzulenken. Irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass wir hier etwas finden werden.«
»Dein Wort in Gottes Ohr, wie meine Oma immer zu sagen pflegte.« Die Eingangstür schwang nach innen und gab den Blick auf eine kleine ältere Frau mit grauen Löckchen preis.
»Frau Birkenfeld? Ich habe Sie schon erwartet. Kommen Sie schnell rein, es ist kalt.« Gudrun Wendelstein wartete in der Tür, die gestrickte Jacke hing ihr bis in die Kniekehlen. Sie stellte zwei Paar Schlappen auf den Kokosteppich und wartete, bis Lara und Jo abgelegt hatten und hineingeschlüpft waren, ehe sie voraneilte.
»Wie wäre es mit einem Glühwein? Ich mische die Gewürzmischung selbst.« Lara nahm am Tisch Platz und betrachtete die Parade der Räuchermännchen auf dem Fensterbrett. In der Küche duftete es nach Weihrauch und Zimt. »Gern. Gemütlich haben Sie es hier.«
»Danke.« Ein Teller mit Plätzchen landete vor ihnen auf dem Tisch. »Die sind selbst gebacken. Heute Nachmittag kommen meine Enkel.«
»Super.« Jo, der voreilig schon die Hand ausgestreckt hatte, bemerkte Laras strafenden Blick gerade noch rechtzeitig und zog sie wieder zurück.
»So, und da wäre auch der Glühwein.« Gudrun Wendelstein wischte sich die knotigen Hände an einem Geschirrtuch ab und setzte sich nun ebenfalls. Es war perfekt. Wäre da nicht der eigentliche Anlass ihres »Besuches« gewesen. Lara beschloss, das Gespräch nicht länger hinauszuzögern. Sie waren nicht zum Vergnügen hier.
»Der Grund, weshalb wir hergekommen sind …«
»… ist Magnus Geroldsen«, beendete die alte Dame den angefangenen Satz. »Sie haben es mir ja gestern schon am Telefon angekündigt.« Dann seufzte sie tief und rang die Hände. »Wenn man doch nur alles rückgängig machen könnte!«
»Bedauerlicherweise ist das unmöglich, Frau Wendelstein. Sie erinnern sich noch an Ihren Schüler?«
»Nur zu gut. Leider.« Wieder seufzte sie. »Aber Sie sind doch nicht gekommen, um mich lamentieren zu hören. Was haben Sie denn für Fragen?« Noch während die Lehrerin sprach, verwarf Lara ihren Plan, Presserecherchen vorzutäuschen, und beschloss, der alten Frau die Wahrheit zu erzählen. Sie gab eine Kurzfassung der zurückliegenden Ereignisse, wobei Jo die Gelegenheit nutzte, mehrere Kekse zu verspeisen. Lara beobachtete die zunehmende Fassungslosigkeit im Gesicht der Zuhörerin, und ihre Zweifel, ob die gewählte Variante richtig gewesen war, verstärkten sich mit jedem Satz. Als sie endete, herrschte einen Augenblick lang
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