Das sechste Herz
passieren würde, wenn es sich bei den Funden tatsächlich um menschliche Herzen handelte. Ein feiner Wind trieb die Schneeflocken vor sich her, sodass es aussah, als flögen sie horizontal durch die Luft. Hubert schnaufte und zog geräuschvoll die Nase hoch, während er durch das Gestrüpp am Rande des Betonweges stampfte. Seitlich vor dem Schuppen blieben sie stehen. Patrick betrachtete die Bretterwand, die als Tür gedient hatte, und gab einen undefinierbaren Laut von sich.
»Stimmt was nicht?« Hubert schaute über die Schulter nach hinten.
»Die Tür dort …«
»Was ist damit?«
»Vorhin hing sie schief in den Angeln. Das untere Scharnier war festgerostet, und ich musste dagegentreten. Danach ist sie schräg zur Seite geklappt.«
»Ich verstehe.« Hubert drückte mit Daumen und Zeigefinger seine rote Nase zusammen. Dann zeigte er mit dem Daumen auf den Eingang zum Schuppen. Die Brettertür stand gerade davor und verschloss die Öffnung komplett. »Du bist, nachdem du den zweiten Thermobehälter gefunden hast, weitergegangen. Jemand muss das hier also wieder in Ordnung gebracht haben, nachdem du weg warst. Der Gleiche wahrscheinlich, der auch die Fußspuren hinterlassen und den Zettel in den ersten Behälter gepackt hat.«
»Ich sehe aber keine Abdrücke.« Patrick legte den Kopf schief. Neben ihm schoss Hubert schnell ein paar Fotos.
»Dann wird er hier gewesen sein, bevor es richtig angefangen hat zu schneien.«
Hinter ihnen raschelte es, und Patrick drehte sich hastig herum und versuchte, die Wildnis mit seinen Blicken zu durchdringen. »Vielleicht ist er noch da?« Seine Stimme klang in der Frostluft dünn und schwächlich.
»Ach was. Sei keine Memme. Außerdem sind wir zu zweit.« Hubert verstaute die Kamera wieder in der Tasche. »Ich geh jetzt rüber und schau mir den Schuppen an. Scheiß auf die Spuren. In einer halben Stunde sind sie eh nicht mehr zu sehen. Du kannst mitkommen oder hier warten, wie du willst.«
»Ich bleibe hier.« Patrick schob die Hände tiefer in die Taschen. Um nichts in der Welt würde er den Schuppen erneut betreten. Was, wenn der Verrückte da drin auf sie lauerte? Er sah zu, wie Hubert hinübertrampelte, und hatte Mühe, das Zittern seiner Lippen zu unterdrücken.
»Es ist nur davorgestellt!« Hubert hob die Bretterkonstruktion hoch und lehnte sie neben den Eingang. Dann verschwand er im Dunkel. Der Wind hatte aufgefrischt. Die nackten Äste in den Spitzen der Bäume bewegten sich wie mahnende Finger hin und her. Patrick drehte sich langsam einmal um die eigene Achse und spähte in Richtung des Wäldchens, hinter dem sich der Zaun befand. Eine Bewegung zwischen den Sträuchern ließ ihn zusammenzucken, doch es war nur eine vorwitzige Krähe, die zaghaft näher hüpfte, ihre glänzenden Knopfaugen auf den Eindringling gerichtet.
Wo blieb eigentlich Hubert? Er hielt die Luft an und lauschte, hörte jedoch nichts außer dem Rauschen des Blutes in seinen Ohren und überlegte, ob er den Kollegen rufen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Hubert hielt ihn wahrscheinlich eh schon für ein Weichei. Plötzlich rumpelte es im Schuppen, dann hörte Patrick ein unterdrücktes Fluchen, gleich darauf erschien die Gestalt des Kollegen in der Tür, und er kam herüber.
»Verfluchter Mist! Hab mir den Kopf angestoßen.« Hubert rieb sich die Stirn. »Elende Finsternis da drin.«
»Hast du noch was entdeckt?«
»Nichts. Jedenfalls nichts, von dem ich jetzt schon wüsste, dass es von Belang ist. Ich hab alles auf Film hier.« Hubert klopfte auf die rechte Jackentasche. Im gleichen Moment klingelte sein Handy. Er nestelte es hervor, las den Namen des Anrufers und hielt es so, dass Patrick mithören konnte.
»Herr Belli? Wo sind Sie gerade?« Die Stimme des Redaktionsleiters klang gehetzt. Und er sprach lauter als sonst. Tom Fränkel wartete nicht auf Antwort, sondern fuhr, ohne Luft zu holen, fort. »Ich brauche Sie hier! Kommen Sie bitte sofort in die Redaktion.«
»Ja, Chef. Sofort. Verstanden.« Hubert konnte seine Antworten im Telegrammstil nicht zu Ende bringen, denn Tom hatte schon aufgelegt.
»Scheiße. Tom muss ja nicht fragen, wo wir sind, weil er das weiß . Außerdem hat er mich gesiezt.« Hubert stopfte das Mobiltelefon zurück in die Tasche und sah sich um. »Das bedeutet, er konnte eben nicht offen reden. Ging wahrscheinlich nicht mit der verabredeten SMS .« Er sprach weiter, während er auf das Gestrüpp hinter ihnen zumarschierte. »Wahrscheinlich sind die
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