Das sechste Herz
Danach ging er neben der kleinen Hure in die Knie, beugte den Oberkörper vor und presste das Ohr auf ihren Brustkorb, um zu hören, ob ihr Herz noch klopfte. Das leise Hämmern ließ ihn aufatmen. Es war alles bestens. Gleich würde er das wunderbarste Organ des menschlichen Körpers in seinen Händen halten.
Es lag noch viel Arbeit vor ihm. Zuerst das Heraustrennen des roten Karfunkels, danach musste er es schnell zu seinem Aufbewahrungsort bringen und die leblose Hülle so entsorgen, dass sie keiner fand.
8
»Ich dachte im ersten Moment, bei der ›Entweichung‹ handele es sich um Magnus Geroldsen.« Mark rührte zwei Löffel Zucker in seinen Tee und sah Agnes French lächeln. Entweichung war Behördendeutsch für »unerlaubte Patientenausflüge«, also nichts anderes als die Flucht eines Insassen aus dem Maßregelvollzug. Nachdem Frieder Solomon – oder besser Dr. Dr. Solomon, denn auf die Nennung des zweifachen Doktortitels legte der ärztliche Leiter großen Wert – Leon Malz mitgenommen hatte, war Mark auf dem Weg in die Backsteinvilla Agnes in die Arme gelaufen. Sie hatte ihn überredet, noch einen Tee mit ihr zu trinken. Schließlich hätte er ja jetzt noch Zeit, hatte sie gesagt und dass sie vor Solomon für ihn bürge. Dabei hatte sie ihn angelächelt. Fast ein wenig kokett, sodass er sich gefragt hatte, ob die hübsche Agnes French ein wenig mit ihm flirtete. Dabei kannte er sie schon aus Studienzeiten, und bis jetzt war ihm noch nie aufgefallen, dass Agnes mehr als eine Kollegin für ihn sein wollte. Aber sie hatten sich nach dem Studium auch für etliche Jahre aus den Augen verloren und waren sich erst wieder begegnet, als sie in Obersprung angefangen hatte. War Agnes eigentlich verheiratet oder liiert? Mark wusste es nicht und mochte auch nicht danach fragen. Es ging ihn nichts an. Wenn, dann hatte sie jedenfalls ihren Nachnamen behalten.
»Geroldsen kann es nicht sein. Für ihn gelten erhöhte Sicherheitsvorkehrungen. Es ist jemand aus Block drei, ein Sexualstraftäter. Ich kenne ihn nur vom Sehen.« Die Ärztin hob die Tasse und betrachtete nachdenklich den zartgrünen Tee darin. »Wie kommst du denn gerade auf Magnus Geroldsen?«
»Ich bilde mir ein, ihn vorhin bei meiner Ankunft oben am Fenster gesehen zu haben. Und wie das dann so ist …«, Mark zuckte entschuldigend mit den Schultern, »geht einem das nicht mehr aus dem Kopf.«
»Du warst damals am Tatort, nicht?« Agnes’ blaue Augen leuchteten.
»Zehn Jahre ist das jetzt schon her, aber es ist mir noch gegenwärtig, als wäre es gestern passiert. Ich hatte erst ein paar Monate vorher die polizeiinterne Ausbildung für die operative Fallanalyse abgeschlossen, und das war der erste große Fall für mich und das Team.« Mark dachte kurz darüber nach, wie viel er preisgeben durfte, ohne die ärztliche Schweigepflicht zu verletzen. Manchmal sprachen sie natürlich über ihre Patienten, aber dann immer ohne Nennung der Namen. Da Agnes aber anscheinend über die damaligen Ereignisse Bescheid wusste, konnte er etwas offener reden. Von Kollege zu Kollege wurden manchmal die Regeln nicht ganz so streng eingehalten wie nach außen hin. Das schien auch Agnes so zu sehen, denn sie wollte offenbar mit ihm über den Fall reden.
»Dienstlich habe ich ja nichts mit Geroldsen zu tun, aber der Mann interessiert mich als Fallbeispiel natürlich trotzdem. Ich habe gehört, dass er sich seit seiner Einlieferung jeglichem Gespräch verweigert; geschweige denn einer Therapie zustimmt. Frieder bemüht sich wohl sehr, aber es ist zwecklos. Ich käme zwar an die Akte von Geroldsen heran, aber mich würde viel mehr interessieren, wie du das damals erlebt hast. So ein spektakulärer Fall fasziniert jeden Psychologen.« Agnes French sah auf die große Wanduhr über der Tür. »Du musst doch noch nicht los?«
»Wenn du mich vor Solomons Zorn darüber, dass ich das Gelände noch immer nicht verlassen habe, beschützt, haben wir noch eine knappe Stunde, bis meine offizielle Zeit für heute endet.«
»Super. Du wurdest also an den Tatort gerufen.«
Mark nahm einen Schluck lauwarmen Tee und nickte. Das Bild des Polizeiautos, das im grellen Sonnenschein mit kreisendem Blaulicht vor seiner Tür gestanden hatte, formierte sich in seinem Kopf, er hörte Annas leise Stimme, die den damals achtjährigen Franz beruhigte, und zugleich das melodische Summen der Türklingel. Nachdem er eingestiegen war, war der Wagen losgeprescht, und auf der Fahrt nach Lichterfelde hatte
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