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Das sechste Herz

Das sechste Herz

Titel: Das sechste Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Puhlfürst
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Stimmen« genannt wurden, weil sie Befehle erteilten. Der Auslöser war wahrscheinlich Drogenkonsum in der Pubertät gewesen.
    Mark sah aus dem Fenster. Auf dem großen Platz rannten zwei Beamte in Richtung der Backsteinvillen.
    Schizophrenie war gar nicht so selten. Schätzungen gingen davon aus, dass bis zu einem Prozent der Bevölkerung zumindest zeitweilig davon betroffen war. Der Vorsitzende Richter hatte sich dem Gutachten angeschlossen. Und so war Leon Malz nach Paragraph 20 des Strafgesetzbuches als schuldunfähig eingestuft und in den Maßregelvollzug eingewiesen worden. Hier galten die Straftäter in erster Linie als Patienten, die behandelt und psychisch stabilisiert werden sollten. Das Ziel war die Rehabilitation. Für viele Insassen hier gab es irgendwann Lockerungen des Vollzugs bis hin zu Freigang und Urlaub, bis sie bei günstiger Prognose entlassen wurden.
    Sie hatten noch viel Arbeit vor sich, aber bei richtiger Medikation und Verhaltenstherapie gab es gerade für Patienten mit paranoid-halluzinatorischer Schizophrenie gute Heilungschancen. Leon Malz würde eines Tages wieder frei sein, dessen war sich Mark sicher. Er lächelte seinen Patienten an und legte Stift und Papier bereit.
    Leider traf die günstige Prognose nicht auf alle Insassen des Maßregelvollzugs zu. Magnus Geroldsen war so ein Fall. Er war seit zehn Jahren hier, und es gab keinerlei Anzeichen einer Besserung. Doktor Frieder Solomon – eigentlich Dr. Dr., denn der Mann besaß zwei Doktortitel –, der Chef höchstpersönlich, kümmerte sich um ihn, aber Geroldsen habe sich vom ersten Tag an Gesprächen und Therapie verweigert, wie man in der Klinik munkelte. Marks Einschätzung nach hatte Magnus ohne Mitleid gemordet und würde es jederzeit wieder tun, wenn es ihm nützte.
    In seinem Kopf formte sich das Bild eines Schlachtfeldes. Blutlachen auf dem Fußboden, Blut an den Wänden, rote Schleifspuren auf hellen Bodenfliesen, Blut an Küchenmessern und Sofakissen, Blut überall. Dazu der kupfrige Geruch, der das gesamte Haus erfüllte und sich in Haaren und Kleidung festsetzte. Er erinnerte sich noch wie gestern an sein Entsetzen bei dem Anblick der drei Kinderleichen, die mit aufgeblähten Bäuchen im Pool trieben, ihre toten Augen starrten nach oben in den azurblauen Himmel. Ihr siebzehnjähriger Bruder Magnus war nirgends aufzufinden. Aber das war noch nicht das Schlimmste gewesen. Die entsetzlichste Entdeckung hatte ihnen da noch bevorgestanden. In der Kühltruhe im Keller des Einfamilienhauses.
    Mark spürte ein leises Schaudern und lenkte den Blick aus dem Fenster, wo schon wieder mehrere Leute über den Platz hetzten. Irgendetwas schien da draußen vor sich zu gehen.
    Als man Magnus Geroldsen endlich gefunden hatte, hatte er mit arrogantem Grinsen alles abgestritten. Ein Einbrecher müsse im Haus gewesen sein. Er selbst sei mit seiner Freundin unterwegs gewesen. Es hatte Monate akribischer Arbeit gebraucht, ihm die Taten nachzuweisen. Seine Eltern verkrafteten in der Folgezeit das Geschehen nicht. Die Mutter hatte sich ein Jahr nach den Morden das Leben genommen, Geroldsens Vater war seitdem Alkoholiker und lebte auf der Straße.
    Mark betrachtete das grüne Linoleum. Leon schrieb eifrig. Seine Zunge hatte er herausgestreckt und bewegte sie im Gleichklang mit der Hand von links nach rechts.
    Draußen begann eine Klingel zu schrillen. Dann ertönte das schnelle Trappeln von Schritten, Männerstimmen bellten Anweisungen, ein grauer Schatten huschte vor dem Fenster zum Gang vorbei. Leon hatte aufgehört zu schreiben und sah zur Tür. Die Zungenspitze steckte noch immer zwischen seinen Lippen wie ein rosafeuchter Lappen.
    Die hektische Betriebsamkeit draußen nahm zu, und Mark stand auf, um nachzusehen, was da los war. Noch ehe er jedoch die Hand nach der Klinke ausstrecken konnte, wurde die Tür aufgestoßen.
    »Die Sitzung ist beendet.« Doktor Frieder Solomon kniff die Lippen aufeinander und zeigte auf Mark. »Ich muss Sie bitten zu gehen, Doktor Grünthal. Und du …«, er wandte sich Leon zu, »… kommst mit mir mit. Ich bringe dich auf dein Zimmer.«
    »Was ist denn los?« Mark beobachtete, wie Leon vor dem ausgestreckten Arm des Klinikchefs zurückwich.
    »Erhöhte Sicherheitsvorkehrungen.« Doktor Solomon wandte sich zum Gang. »Sie gehen bitte unverzüglich ins Gebäude zwei, holen Ihre Sachen und verlassen dann das Gelände.«
    Nett, dass er nicht »verschwinden« gesagt hatte. Mark kräuselte die Lippen und packte die

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