Das sechste Herz
Unterlagen in seine Aktentasche. Diskutieren war zwecklos. Der letzte Satz des Klinikchefs jedoch ließ ihn kurz innehalten.
»Wir haben eine Entweichung.«
7
»Hier bist du rein?« Hubert flüsterte, obwohl weit und breit niemand zu sehen war.
»Du hast ja das Fabriktor gesehen. Dort kommt keiner so leicht durch. Und es war auch unbeschädigt. Deshalb bin ich hinten herumgegangen.«
»Sieht so aus, als wäre der Kerl auch an dieser Stelle auf das Gelände gelangt.« Hubert fotografierte die Umgebung und richtete den Sucher dann auf den Boden, während er weiterredete. »Das Gestrüpp ist zertrampelt. Und es liegt allerhand Abfall rum. Könnte von dem Briefeschreiber stammen.« Er ließ den Arm sinken. »Vielleicht hat er genau hier gestanden und dich beobachtet, während du da drin den Pfadfinder gespielt hast.«
Patrick musterte die Fetzen, die wie Bonbonpapier aussahen, und fühlte dabei Eisfinger über seinen Rücken krabbeln. »Ich habe heute Vormittag schon alles aufgenommen.«
»Ja, das weiß ich doch. Aber vier Augen sehen mehr als zwei. Außerdem hat diese Kamera hier eine bessere Auflösung als die, die du vorhin mithattest. Wir können das Ganze dann am Rechner vergrößern und nach Einzelheiten suchen. Außerdem sind diese Fotos druckfähig. Könnte eine Riesenstory werden, und dann brauchen wir Material für mehrere Ausgaben. Wir tun dann einfach so, als hättest du bei deinem ersten Besuch alles ausgiebig fotografiert. Und nun lass uns hineingehen. Wir haben nicht viel Zeit. Spätestens in einer Stunde müssen wir uns auf den Rückweg machen.« Hubert quetschte mit einem Ächzen seinen Bauch zwischen den Gitterstäben hindurch. »Tom will mir eine SMS schicken, falls die Bullen eher hierherkommen. Dann müssen wir ganz schnell verschwinden.«
Ein dünner Schneefilm hatte sich wie Puderzucker auf die kahlen Äste der Bäume und Sträucher gelegt und die Dächer der Gebäude weiß getüncht.
»Schau mal dort.« Jetzt flüsterte Hubert wieder. Er hatte kurz vor dem Betonweg gestoppt und zeigte nach vorn. »Sind das Fußspuren?«
Patrick zupfte an seinem linken Handschuh. Auf den Platten zeichneten sich deutliche Schuhabdrücke ab, die in ihre Richtung führten, um sich dann im vertrockneten Gras zu verlieren. Männerschuhe mit Profilsohlen. Der »Informant« musste das Gelände erst vor Kurzem verlassen haben. Wenn er nicht noch hier war und irgendwo aus dem Gebüsch heraus mit den starren Augen einer Schlange auf sie beide schaute.
Hubert schien keine Antwort zu erwarten. Er schoss ein paar Bilder und murmelte dabei vor sich hin. »Die sind noch ziemlich frisch. Es hat ja erst vor zwei Stunden angefangen zu schneien. Wir bräuchten ein Vergleichsmaß, damit man später die Schuhgröße feststellen kann. Was könnten wir da daneben legen …«
»Warte.« Patrick zupfte den Kollegen am Ärmel. »Wir können dort nicht hin.«
»Wieso das denn? Hast du Angst?«
»Nein.« Das war eine Lüge. »Aber wenn wir den Weg betreten, hinterlassen wir ebensolche Spuren. Wenn nachher tatsächlich die Polizei hier aufkreuzt, wissen die doch gleich, dass heute Nachmittag noch jemand hier war.«
»Mist.« Hubert schloss kurz die Augen und pustete Luft aus. »Du denkst mit, Kleiner. Der erste Thermobehälter war da drüben?«
»Im Keller dieses Aufganges, der wie ein Turm aussieht.« Patrick dachte an die Dunkelheit und das rote Kreuz an der Mauer und schauderte.
»Ich will mir das mit eigenen Augen anschauen.« Wahrscheinlich sah Hubert schon den großen Artikel in der Tagespresse , den er über die Funde schreiben würde, vor sich. »Wir müssen eine Möglichkeit finden, dort hinüberzugelangen, ohne Fußspuren zu hinterlassen. Vielleicht sehen wir uns doch erst die beiden anderen Fundstellen an. Der Schuppen steht dahinten?«
Hubert brauchte die Kopie mit den drei Kreuzchen nicht. Er hatte sich auf der Fahrt hierher noch einmal alles haarklein von Patrick berichten lassen und sich, bevor sie ausgestiegen waren, die Lage der einzelnen Gebäude und der Fundorte eingeprägt. »Dann nehmen wir uns den Turm zuletzt vor. Vielleicht kommt man auch von der Rückseite in das Gebäude.« Noch im Sprechen marschierte er los, und Patrick folgte ihm wie ein braves Hündchen, nicht ohne sich nach allen Richtungen umzusehen. Mochte der Kollege die Aktion für ungefährlich halten, er selbst tat es nicht. Wieder und wieder tauchten die Bilder der drei Fleischklumpen vor Patricks innerem Auge auf, und er fragte sich, was
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