Das sechste Herz
Aufenthalte im Freien nicht und bekam so keine Sonne ab. Manche Patienten wurden in der Klinik schnell antriebsarm. Bei Leon hing das zudem mit seiner Erkrankung zusammen.
Jetzt nuschelte er eine Antwort, die nach »ganz gut« klang. Er sah dabei zu Boden und wirkte wie immer abwesend. Leon Malz litt an einer paranoid-halluzinatorischen Schizophrenie. Er hörte Stimmen, die ihn steuerten und ihm Befehle gaben, und fühlte sich beobachtet und verfolgt.
»Das ist erfreulich.« Erst im letzten Monat hatte Mark die Medikation zu einer geringeren Dosis geändert. Das Neuroleptikum, das Leon bekam, hatte starke Nebenwirkungen. Ganz darauf verzichten konnten sie jedoch nicht. Gerade bei den Patienten, die unter chronischen Halluzinationen und Wahnvorstellungen litten, hatte es sich als sinnvoll erwiesen, dass sie ihre Medikamente dauerhaft einnahmen. Wenn der Patient das subjektive Empfinden hatte, sein Zustand bessere sich durch die Medikamente, war das nützlich.
»Sind Sie bereit für unsere heutige Therapiestunde?« Mark versuchte, Blickkontakt zu seinem Patienten herzustellen, aber dieser hielt den Kopf gesenkt und sah zu Boden. »Wir wollten an den Ablenkungsstrategien arbeiten, erinnern Sie sich?« Eine vorsichtige Berührung am Ärmel ließ Leon aufschauen. Sein Blick verharrte für einen Sekundenbruchteil auf dem Arzt, dann rollten seine Augen nach oben, und er starrte zur Zimmerdecke. Mark ließ sich davon nicht stören. Viele seiner Patienten vermieden es, ihr Gegenüber anzusehen, und mochten es noch weniger, angeschaut zu werden.
Leon Malz war ein Mörder. An seinem vierundzwanzigsten Geburtstag hatte er seine Mutter mit einem Stromkabel erwürgt und die Leiche dann zur Abschreckung für die anderen – wie er später behauptete – gut sichtbar auf dem Balkon aufgehängt. Beim Eintreffen der Polizei war er in eine katatonische Starre verfallen, hatte sich wie eine willenlose Puppe festnehmen und abführen lassen, und auch in der Untersuchungshaft hatte sein apathischer Zustand Tage angedauert. Als er schließlich redete, behauptete er, Stimmen hätten ihm die Tat befohlen. Die Mutter habe ihn die ganze Zeit beobachtet, ihm nachspioniert und seine Gedanken gelesen. Zudem sei es ihr gelungen, sein Zimmer durch Wasserleitungen und Heizungsrohre mit gasförmigen Drogen zu verseuchen, die ihm den Verstand vernebelt hätten. Nach den »Stimmen« befragt, erklärte Leon, dass diese schon seit vielen Jahren zu ihm sprachen. Sie kommentierten sein Verhalten, gaben ihm Hinweise und ordneten Dinge an, die er erledigen sollte. Als der Psychoterror seiner Mutter nach dem Tod des Vaters immer unerträglicher geworden sei, hätten die Stimmen ihm dargelegt, dass es ihm erst besser gehen werde, wenn die Mutter weg sei, und empfohlen, sie sich vom Hals zu schaffen, da es sonst schlimmer und schlimmer werden würde. Auch die Idee, die Leiche auf den Balkon zu hängen, war von den Stimmen gekommen. Die Mutter hatte einflussreiche Freunde. Sie alle sollten sehen, was mit Menschen passierte, die es wagten, in Leon Malz’ Gehirn einzudringen und darin herumzuspionieren.
Am Schluss fügte Leon noch hinzu, die Stimmen hätten recht gehabt. Nach der Tat habe er sich befreit gefühlt. Niemandem sei es bis jetzt wieder gelungen, in seinen Kopf einzudringen und seine Gedanken zu lesen. Die Stimmen allerdings seien noch immer da.
Mark ließ seinen Blick unauffällig über die weichen Gesichtszüge des Patienten gleiten. Man sah ihm nicht an, was er getan hatte. Schizophrenie hatte eine erbliche Komponente. Auch Leons Vater war daran erkrankt gewesen. Jetzt war der Vater tot, und Leon saß im Maßregelvollzug, weil er seine Mutter umgebracht hatte.
Der Staatsanwalt hatte Leons Erklärungen für Schutzbehauptungen gehalten. Schließlich gab es genügend Täter, die sich mit »Befehlen von außen« herausreden wollten. Leons Anwalt jedoch – Mark kannte ihn von einigen vorhergehenden Prozessen – hatte seinem Mandanten geglaubt und ein Gutachten in Auftrag gegeben.
Nachdem sie organische Ursachen wie einen Gehirntumor, Entzündungen oder Vergiftungen des Gehirns, affektive Erkrankungen wie Depressionen und andere Persönlichkeitsstörungen ausgeschlossen hatten, hatte Mark verschiedene Tests und Untersuchungen mit Leon durchgeführt. Das Ergebnis war eindeutig gewesen: Leon Malz litt an verschiedenen Schizophrenie-Symptomen wie Verfolgungs- und Beziehungswahn und akustischen Halluzinationen, die im Fachjargon »imperative
Weitere Kostenlose Bücher