Das sechste Herz
ehe er weitersprach. »Jemand hat kurz vor Tom bei der Polizei angerufen. Die hatten Glück, dass Patrick schon weg war, als die Kripo vor Ort aufkreuzte.«
»Tom hat aber auch jedes Mal einen Dusel!« Lara schnaufte. »Danke Jo. Ich werde gleich recherchieren. Wir hören uns später.« Sie legte auf und betrachtete ihre hastig hingeworfenen Notizen. Ob Mark schon zu sprechen war? Sie würde ihn noch einmal auf die Sache mit dem Komplizen ansetzen. Er ging doch in Obersprung ein und aus. Auch wenn er nichts mit Geroldsen zu tun hatte, er hatte ihr letztens versprochen, sich zu erkundigen.
20
Lisa stieß die Tür auf und klopfte ihre Stiefel ab. Im Vorraum roch es nach Schweißfüßen. Mit angewidertem Gesicht musterte sie die Schuhparade vor den Kleiderhaken. Rolf verlangte, dass sie die Straßenschuhe auszogen, wenn sie herkamen. Im Sommer konnten sie sie anlassen, aber sobald es regnete, und im Winter sowieso, mussten die Dinger runter. Es gab Filzpantoffeln aus der Behindertenwerkstatt für jeden von ihnen. Lisa nahm ihre Schlappen aus dem Plastikbeutel und stellte die Halbstiefel ganz hinten in die Ecke. Sie ekelte sich vor den grauen Dingern.
Im Versammlungsraum, den Rolf »Treff« getauft hatte, waren erst wenige Stühle besetzt. Einen Mundwinkel zu einem schiefen Begrüßungsgrinsen hochgezogen, ging Lisa von Platz zu Platz und schüttelte Hände. Sie kam schon seit anderthalb Jahren hierher, doch sie kannte trotzdem nur die Vornamen. Das war so üblich bei den Anonymen Alkoholikern. Die meisten hier waren ihr auch schnurzegal: Der dicke Alfred mit der roten Nase, der tätowierte Paul, das Pärchen mit dem kleinen Kläffer, die zwei älteren Männer – Micha und Lutz –, die, egal was für ein Wetter war, immer ihre olivgrünen Armeeparkas trugen, und Friederike, die wohl jeden Kerl hier schon mit nach Hause genommen hatte. Dazu kamen zwei, drei Typen, die nur sporadisch auftauchten. Wahrscheinlich plagte sie nach ihren Abstürzen jedes Mal das schlechte Gewissen, und dann besänftigten sie es mit einem Besuch in der Selbsthilfegruppe.
Lisa setzte sich an den Rand. Links neben ihr saß ein Neuer, der die Hände im Schoß verkrampft hatte und nach unten sah. Frank war noch nicht da. Sie rieb ihre schwitzenden Hände an den Hosenbeinen. Er brauchte nicht gleich mit der Nase darauf gestoßen zu werden, dass sie aufgeregt war. Als die Tür hinter ihr aufsprang, zuckte sie zusammen, schaute noch einen Augenblick lang nach vorn und sortierte die Sätze in ihrem Kopf. Die Enttäuschung rann ihr wie bitterer Pomeranzenlikör die Kehle hinunter. Rolf gab der Tür einen Stoß, sodass sie ins Schloss krachte, und kam näher, sein obligatorisches breites Lächeln im Gesicht. Er ging nach vorn und winkte dabei jedem Einzelnen zu. Seine Filzpantoffeln waren etwas zu groß und schlappten bei jedem Schritt von den Fersen, aber das schien ihn nicht zu stören.
Bevor er sich setzte, stand Rolf noch ein paar Sekunden vor seinen Schäfchen und lächelte sein »Ihr schafft das«-Lächeln. Der Neue hatte nicht einmal hochgeschaut. Wahrscheinlich schämte er sich. Viele von ihnen hatten sich geschämt, als sie das erste Mal hierhergekommen waren. Rolf ließ sich auf seinen Stuhl plumpsen, zog die Hosenbeine zurecht und predigte die üblichen Begrüßungsformeln, diesmal besonders ausführlich und mit mehr Inbrunst als sonst. Nachdem er noch einmal die Bedeutung der geschlossenen Meetings erklärt hatte, machte er eine Pause und wartete darauf, dass jemand mit seinen aktuellen Problemen herausrückte. Lisa hatte sich vorgenommen, heute nur zuzuhören. Sie war nun schon über ein Jahr trocken und nutzte die Treffen meist nur, um ihre eigenen Handlungsweisen selbstkritisch zu betrachten. Der dicke Alfred begann von seinem Familientreffen zu berichten und wie schwer es für ihn gewesen war, den anderen beim Trinken zuzusehen. Alfred sprach gern und oft über seine Probleme. Und er redete lange.
Lisa hatte die Hoffnung, dass Frank noch kommen würde, schon aufgegeben, als sich hinter ihr die Tür öffnete. Ohne dass sie sich umdrehen musste, wusste sie, wer der Zuspätkommer war. Ihr Herz galoppierte los, und gleich darauf wurden die Hände wieder feucht. Frank schob sich vorsichtig näher, hob kurz die Hand und nahm zwei Stühle rechts von ihr Platz.
Den Rest des Meetings verpasste Lisa. Besser gesagt, sie konnte sich später am Abend nicht mehr erinnern, was gesagt worden war oder wer gesprochen hatte. Dafür erinnerte sie
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