Das sechste Herz
Spaziergänger oder Parkwächter zu erwarten, die sein Tun missbilligen konnten. Zur Not würde er kurz anhalten, um die gewünschten Fotos zu schießen, und dann ganz schnell wieder verschwinden. Auch wenn Tom es für unwahrscheinlich gehalten hatte, der Gedanke, dass der Täter dort irgendwo im Gestrüpp lauerte und ihm beim Herumspionieren zusah, war Patrick nicht aus dem Kopf gegangen. Wozu sonst hatte dieser Typ das zweite Schreiben ausgerechnet wieder an die Tagespresse geschickt? Er würde den Praktikanten wahrscheinlich sogar als denjenigen wiedererkennen, der schon am ersten Fundort gewesen war. Und wer weiß, welche unguten Assoziationen das bei einem Verrückten, der tiefgefrorene Herzen in Thermobehältern versteckte, auslöste.
Das Hinterrad rutschte zur Seite, als Patrick zu schnell in die Fußgängerzone abbog, und er bremste vorsichtig. Die Pflastersteine waren rutschiger als der schwarze Asphalt. Er hörte sich selbst keuchen und dachte an die Fotos und die beiden Anrufe, die er vor gut zwanzig Minuten getätigt hatte.
Das Fahrrad stellte er im ersten Stock ab, dann hastete er die Treppen nach oben, verschnaufte vor der Tür zu den Redaktionsräumen kurz und versuchte dabei, nach drinnen zu lauschen, hörte aber lediglich das Rauschen des Bluts in seinen Ohren. Nachdem sein Atem sich beruhigt hatte, griff er nach der Klinke, klopfte mit der Linken noch einmal seine Hosentaschen nach Schlüsselbund, Handy und Kamera ab und riss dann die Tür auf. Als Erstes traf ihn ein Schwall warmer Luft, dann brandete das geschäftige Hintergrundsummen, das fast immer in den Redaktionsräumen herrschte, an seine Ohren. Hubert hatte sich halb aus seinem Sitz erhoben, sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an und berührte dabei kurz die Lippen mit dem Zeigefinger.
Toms Zimmertür war geschlossen. Patrick hängte seine Jacke an die Garderobe und erblickte sein eigenes Gesicht im Spiegel. Die Haut hatte von der Kälte eine ungesunde purpurne Farbe angenommen.
»Wo kommst du denn her?« Friedrich Westermann schlurfte, eine halb volle Kaffeetasse in der Rechten, aus der Küche, dicht hinter ihm folgte Ulrike Bannschuh.
»Ich … äh … musste was erledigen.« Während Patrick noch mit sich selbst haderte, weil er sich keine glaubwürdige Ausrede für seinen Ausflug zurechtgelegt hatte, sprach Friedrich schon weiter. Seine kleinen Augen glänzten aufgeregt. »Hier überschlagen sich mal wieder die Ereignisse.« Er zeigte in Richtung des Redaktionsleiterzimmers. »Tom hat Besuch. Von der Polizei, unserem Freund und Helfer. Du warst doch Dienstag vor einer Woche auf diesem Fabrikgelände und hast die Herzen gefunden, nicht?« Jetzt zeigte der Finger auf ihn, und Patrick beeilte sich zu nicken. »Tja, anscheinend gibt es einen weiteren Fund. Draußen in Markkleeberg.«
»Heute Vormittag kam ein Brief mit der Post.« Auch Ulrike Bannschuh wollte ihren Senf dazugeben. Nur Hubert hatte es scheinbar die Sprache verschlagen. Aber ihm war ja bewusst, dass Patrick die Details alle schon kannte. »Da war eine neue Lageskizze drin.«
Patrick setzte einen verblüfften Gesichtsausdruck auf und nickte eifrig. Friedrich riss das Ruder wieder an sich und setzte Ulrike Bannschuhs Satz fort. »Mit einem roten Kreuzchen, genau wie beim ersten Mal. Hubert hat den Brief vorhin geöffnet, und Tom hat gleich die Kripo benachrichtigt. Die sind schon auf dem Weg dorthin.«
Noch ehe Patrick sich überlegt hatte, dass er Friedrich vielleicht danach fragen müsste, wo »dorthin« denn sei, öffnete sich Toms Tür, und der Redaktionsleiter kam heraus, gefolgt von einem großen dünnen Mann mit buschigem Schnauzbart.Der Fremde glich einem ärgerlichen Uhu. Toms Blick fiel auf Patrick, seine Augen öffneten sich ganz kurz, und er hob für einen Moment die Brauen, ehe er sich den anderen Kollegen zuwandte. »Was ist denn das hier für eine Vollversammlung?«
»Wir haben über den Brief mit dem Lageplan gesprochen.« Friedrich schien sich nie vor Tom Fränkel zu fürchten. Vielleicht, weil er nächstes Jahr in Rente ging. Jetzt wandte er sich dem Uhu direkt zu. »Glauben Sie, dass dort wieder ein Herz versteckt ist, Herr Stiller?« Er schien den Mann zu kennen. Patrick musterte seine Kollegen. Die anderen anscheinend auch.
»Darüber kann Kriminalkommissar Stiller«, Tom betonte den Dienstgrad des Angesprochenen, »zum jetzigen Zeitpunkt noch nichts sagen. Kriminalpolizei und Spurensicherung sind vor Ort.« Der Uhu nickte und setzte sich
Weitere Kostenlose Bücher