Das sechste Herz
sich noch ganz genau, wie Frank von der Seite ausgesehen hatte, konnte seinen konzentrierten Blick fühlen und beschreiben, was er angehabt hatte. Die Kunst, jemanden aus den Augenwinkeln zu beobachten, hatte sie schon in der Schule perfektioniert. Als Rolf die Schlussfloskeln sprach und allen dankte, erwachte Lisa aus ihrer Trance. Würde Frank noch bleiben? Manche aus der Gruppe tranken nach den Treffen noch einen Kaffee und quatschten ein bisschen. Andere verschwanden so schnell, wie sie gekommen waren. Sie hatte noch immer keinen Plan, wie sie ihn ansprechen, geschweige denn sich mit ihm unterhalten sollte. Noch während Lisa Sätze in ihrem Kopf formulierte und gleich wieder verwarf, schob Frank seinen Stuhl nach hinten und kam direkt auf sie zu. Ihr Herz machte einen Hopser und blieb dann stehen.
»Hallo Lisa.« Er streckte den Arm aus. »Trinkst du noch etwas mit oder musst du gleich los?«
Lisa fühlte die Wärme seiner Handfläche auf ihrer Schulter und spürte, wie ihr Herz wieder zu schlagen begann. So laut, dass man es wahrscheinlich bis in die Innenstadt hören konnte. Ihr Kopf hatte sich selbstständig gemacht und bewegte sich schnell von links nach rechts.
»Fein. Ich hab auch noch eine halbe Stunde.« Er ließ ihre Schulter los und ging voran in Richtung des Nebenraums, den Rolf letztes Jahr mit ihrer Hilfe zu einer kleinen Küche umgebaut hatte. »Kaffee vertrage ich um diese Zeit nicht mehr, aber ein Orangensaft wäre gut.« Er öffnete den Schrank, nahm zwei Gläser heraus und schenkte ein. Lisa sah sich selbst neben ihm stehen, den Mund halb offen, einen dämlichen Ausdruck im Gesicht. Fehlte nur, dass ihr Speichel übers Kinn lief. Sie verschränkte die Arme und kniff sich mit Daumen und Zeigefinger heftig in den linken Oberarm. Es half. In ihren Kopf kehrte die Klarheit zurück, und auch die Stimme funktionierte wieder. »Danke. Supernett von dir.« Sie nahm ihm das Glas ab.
»Setzen wir uns raus?« Frank nickte ihr zu und lächelte ein derart strahlendes Lächeln, dass Lisas Beine sofort puddingweich wurden. Zum Glück ging er vorneweg, sodass ihm ihr Schwanken entging. Draußen herrschte Funkstille. Die Treffen waren jeden Dienstag und Freitag, und freitags verschwanden alle immer schnell, wollten nach Hause, das Wochenende genießen. Nur der dicke Alfred saß noch an einem der Tische und diskutierte mit Rolf. Wahrscheinlich war er einsam und hatte daheim niemanden zum Reden.
Frank zog einen Stuhl heran, und Lisa ließ ihren Blick schnell nach oben gleiten. Wärme breitete sich in ihrem Gesicht aus. Es fehlte noch, dass er bemerkte, wie sie ihm auf den Hintern starrte.
Nachdem sie über das Wetter, mögliche Urlaubsziele im Sommer, Weihnachten und den künstlichen Geschmack des Orangensafts geredet hatten – alles, nur nicht über Alkohol –, machte Frank Anstalten aufzubrechen. Lisa sah, wie er mehrfach auf die Uhr schaute und unruhig auf dem Stuhl hin- und herrutschte, und fragte sich, ob er noch eine Verabredung hatte oder ob womöglich eine Frau oder Freundin zu Hause auf ihn wartete, traute sich jedoch nicht, direkt danach zu fragen. Einen Ring trug er jedenfalls nicht.
»Ich muss dann los. Warte, ich mach das schon.« Gleichzeitig mit seinen Worten erhob er sich und griff nach den beiden Gläsern, um sie in die Küche zu bringen.
Lisa sah ihn zurückkommen, die Jacke schon über dem Arm, und fasste sich ein Herz. »Soll ich dich mit in die Stadt nehmen?« Sie ahnte sein ablehnendes Kopfschütteln, ehe es erschien, und setzte schnell hinzu: »Ich habe mir das Auto meines Bruders geborgt.« Bei dem Wort »geborgt« malte sie mit den Zeige- und Mittelfingern zwei Anführungszeichen in die Luft.
»Nett von dir.« Frank schlüpfte in die Ärmel. »Aber ich bin selbst mit dem Wagen da.«
Er hatte ein Auto? Lisa öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, und schloss ihn gleich wieder. Franks Ausflüge mit der Straßenbahn zu erwähnen, hätte bedeutet, ihm zu offenbaren, dass sie ihm nachspioniert hatte.
»Dann bis nächsten Dienstag. War nett, mit dir zu plaudern, Lisa.« Er gab ihr die Hand, winkte Rolf ein »Tschüss« zu, ging in Richtung Tür und verschwand nach draußen.
»Ich muss auch los. Ciao, Rolf!« Lisa erwachte aus ihrer Lähmung, warf sich die Jacke über die Schultern und nestelte nach dem Autoschlüssel. Wenn sie sich beeilte, konnte sie sehen, wohin Frank fuhr. Vielleicht würden sie auch ein Stück der Strecke gemeinsam haben. Mehr rennend als gehend hastete Lisa
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