Das sechste Herz
Wochen nach dem Fund der drei Herzen auf dem Fabrikgelände. Die Bild hatte ja vorgestern schon mit dem Gedanken spekuliert, dass die beiden Fälle sehr ähnlich geartet waren. Das Blatt druckte jetzt jeden Tag eine fette Schlagzeile zum »Schlachter«. Das brachte Quote. Schnell überflog Lara den Text. Neuigkeiten schienen sie nicht zu haben. Sie klickte sich durch die Links. Die Zeitung hatte noch einmal den Fall der ermordeten Geschwister dargestellt und mit drastischen Worten die Taten des damals Siebzehnjährigen plakatiert. Auf den Fotos hatten sie die Gesichter von Geschwistern und Eltern unkenntlich gemacht. Die Artikelserie endete mit der Darstellung des Gerichtsprozesses und Details zum Urteil.
Drei andere Tageszeitungen waren auf den Zug aufgesprungen und berichteten ebenfalls über die Übereinstimmungen der beiden Fälle.
Lara kramte die Notizen ihres Gesprächs mit Mark vom letzten Sonntag hervor. Geroldsen saß im Maßregelvollzug. Er konnte es also nicht gewesen sein. Jo hatte den Gedanken geäußert, dass ein Komplize hinter der Sache stecken könnte. Jemand, den Magnus Geroldsen in Obersprung kennengelernt hatte. Mark hatte ihnen daraufhin einen Vortrag über Vollzugseinrichtungen und Lockerungen gehalten. Die Idee mit dem Komplizen schien er abwegig zu finden. Aber möglich war alles. Psychisch kranke Straftäter entkamen, manche wurden als geheilt entlassen.
Lara sah aus dem Fenster, während sie Jens Hohnsteins Nummer wählte. Es war noch finster, die Sonne würde erst in knapp einer Stunde aufgehen. Seit sie ihren Job bei der Tagespresse an den Nagel gehängt und sich selbstständig gemacht hatte, hatte sie es sich zur Regel gemacht, jeden Morgen als Erstes die aktuellen Neuigkeiten im Internet nachzulesen. Das ersetzte ihr den News-Ticker in der Redaktion. Gleichzeitig konnte sie sich darauf vorbereiten, was eventuell für ihre nächsten Artikel wichtig sein würde.
Jens Hohnstein hob nach dem zweiten Klingeln ab. Nachdem sie ihm die Kurzform der Geroldsen-Schlachter-Geschichte geschildert hatte, stimmte er ihr zu, dass daraus ein spannender Bericht werden würde, und schlug vor, ihm eine erste Fassung mit den Angaben zu möglichen Fortsetzungen zu mailen. Nachdem er aufgelegt hatte, betrachtete Lara den Satz in ihrer Tasse und beschloss, sich noch einen Kaffee zu gönnen. Sie hatte das Gefühl, an dunklen Wintermorgen besonders schwer in die Gänge zu kommen. Auf dem Weg in die Küche klingelte ihr Handy, und sie hastete zurück ins Arbeitszimmer. Hatte Jens etwas vergessen?
»Morgen Lara. Bist du schon fleißig?« Jo klang munter. Viel zu munter. Er schien nie müde zu sein.
»Ich versuche es. Ich war gerade dabei, mir einen richtig starken Kaffee zu brühen. Also halb Kaffeepulver, halb kochendes Wasser.« Sie hörte, wie Jo ein »Uh« von sich gab, und lachte. »Und du? Es ist noch nicht mal sieben.« Wieso rief er so früh an? Im Hintergrund summte ein Automotor. »Bist du etwa schon unterwegs?«
»Ich fahre zum Schkeuditzer Kreuz. Dort hat es gekracht, und Tom kauft ungern Fotos von Agenturen, wenn wir eigene haben können.«
»Du hast wohl schon wieder den Polizeifunk abgehört? Und telefonierst außerdem während der Fahrt ohne Freisprecheinrichtung. Nicht nur, dass das gefährlich ist, es ist auch verboten.«
»Ja, Mama.« Sie konnte ihn grinsen hören. Beim nächsten Satz wurde er wieder ernst. »Ich rufe eigentlich an, um dir unter dem Siegel der Verschwiegenheit etwas zu erzählen.«
Noch bevor er fortsetzen konnte, sah Lara einen graugrünen Thermobehälter mit der Nummer »4« vor sich. »Ein weiteres Herz?« Sie warf in ihrer hastigen Suche nach Block und Stift Papiere auf den Fußboden.
»Woher weißt du das?« Jo schnaufte. »Gestern im Kees’schen Park.« Lara begann zu schreiben, während er die Einzelheiten schilderte.
»Wir haben einen Maulkorb bekommen, aber das wird sich nicht lange geheim halten lassen. Es gibt immer Beobachter, und die Aktivitäten von Kripo und Spurensicherung gestern Nachmittag können nicht allen verborgen geblieben sein. Irgendwann wird jemand Parallelen ziehen. Wenn es nicht schon geschehen ist.«
»Und Tom hat den Praktikanten zur Spurensuche hingeschickt, bevor er die Kripo informiert hat?« Lara schüttelte den Kopf. Tom Fränkel war und blieb ein Hasardeur. »Wenn das rauskommt, kommt er in Teufels Küche.«
»Da ist er schon. Und von mir hast du die Informationen nicht.« Lautes Hupen drang aus dem Hörer, dann fluchte Jo kurz,
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