Das sechste Opfer (German Edition)
ernähren können. Ich möchte jeden Tag zufrieden einschlafen mit dem Gedanken, das getan zu haben, was ich für richtig halte. Und dabei ist es mir egal, ob ich in einer höheren Führungsposition sitze oder unwichtige Artikel schreibe. Vielleicht werde ich beim Financial Report bald mal wegen mehr Arbeit anfragen, aber deinen Freund hier rufe ich definitiv nicht an.«
Demonstrativ zerknüllte ich die Visitenkarte. Nicole sah mir mit unbewegter Miene zu. Dann stand sie auf und ging ins Badezimmer. Die Tür knallte sie hinter sich zu.
Ich stürmte in mein Arbeitszimmer, ebenfalls die Tür knallend, obwohl sie das wahrscheinlich nicht mehr hörte, denn aus dem Badezimmer drang das Rauschen der Dusche. Dann setzte ich mich an meinen Rechner und tippte ein paar Bilanzen für meinen Artikel ab, während mein Kopf damit beschäftigt war, schlagkräftige Argumente dafür zu finden, warum ich diese Arbeit auf keinen Fall aufgeben wollte.
Seit einiger Zeit stand diese wiederkehrende Debatte um meine angeblich brachliegende Karriere wie eine Mauer zwischen meiner Frau und mir und wir kamen einfach auf keinen gemeinsamen Nenner. Wenn es um mein Leben ging, hatte Nicole offenbar ganz andere Pläne als ich. Sie arbeitete bereits seit einigen Jahren als Finanzberaterin in einem großen Immobilienbüro, das insolvente Immobilien erwarb und an neue Investoren verkaufte. Ihre Aufgabe bestand darin, neue Käufer beziehungsweise Investoren zu gewinnen, indem sie ihnen günstige Sanierungskonzepte für die verfügbare Immobilie präsentierte. War ihr Konzept gut, sah der potenzielle Käufer seinen Profit durch den Kauf vergrößert und ließ sich auf das Geschäft ein. Es war ein Job, in dem sie nicht nur unentwegt mit Zahlen jonglieren und sich gegen eine hauptsächlich männliche Konkurrenz durchsetzen musste, sondern in dem sie sich von der Praktikantin zur Assistentin der Geschäftsleitung hochgearbeitet hatte. Inzwischen hatte sie sich in Berlin und Brandenburg großen Respekt verschafft, und wenn sie ein Seminar besuchte, wurden die Anwesenden immer mit diesen Worten begrüßt: »Sehr geehrte Herren, sehr verehrte Frau Mustermann«. Sie war die einzige Frau, die es soweit geschafft hatte. Und die Einzige, die wirklich hoffnungslose Fälle sanieren konnte. Und das wollte sie offenbar auch mit mir.
Als wir später nebeneinander im Bett lagen, kam das Thema, das wir den Rest des Abends mühsam vermieden hatten, doch wieder hoch, da ich meine Neugier leider nicht im Griff hatte und wissen wollte, was die QUASI GmbH in Rostock herstellte. Nachdem mir Nicole erklärt hatte, dass sie medizinisch-technische Geräte produzierten und damit international so erfolgreich waren, dass sie gerade ihre Belegschaft verdoppelten, versuchte ich das Thema schleunigst wieder zu beenden, indem ich demonstrativ müde gähnte und darauf verwies, dass ich die ganze Nacht durchgearbeitet hatte. Was auch fast die Wahrheit war. Nur wenig später hörte ich, wie Nicoles Atem gleichmäßig über ihre Bettdecke strich, und betrachtete ihren Körper, der sich unter der Decke wölbte. Die erste Begegnung war vorüber und weniger problematisch verlaufen als befürchtet. Es ist leichter, einen Menschen zu belügen, wenn man zornig oder wütend auf ihn ist.
Unser Streit hatte mein schlechtes Gewissen vermindert und die leidenschaftlichen Stunden mit Clara in die Ferne gerückt. Dennoch starrte ich noch lange in die Dunkelheit, bis ich endlich einschlafen konnte.
Ich wachte auf, als Nicole bereits den bei uns obligatorischen Morgenkaffee trank und dabei die Zeitung las. Als ich in die Küche kam, wo sie an dem Küchentisch vor aufgebackenen Brötchen, Marmelade und Schinken saß, setzte sie die Tasse, die sie in der Hand hielt, ab und lächelte mich an. Ich strich mir durch mein zerwühltes Haar, um es etwas zu glätten, murmelte ein müdes »Guten Morgen« und wollte gerade ins Badezimmer gehen, als sie mich zurück rief.
»Hast du gut geschlafen?«
Ihre Stimme hatte nichts mehr von der Bissigkeit des gestrigen Abends, sondern klang weich und entschuldigend.
»Danke, habe ich. Und du?«
»Ja, ich bin jetzt wieder fit und ausgeruht. Ich war wohl gestern ein bisschen, na ja, sagen wir mal, gereizt.«
Ich sah sie erstaunt an und setzte mich auf den leeren Stuhl am Tisch. »Wir waren wohl beide etwas unpässlich.«
Sie lächelte mich wieder an. »Möchtest du etwas essen?«
Ohne meine Antwort abzuwarten, nahm sie eines der Brötchen und bereitete es für mich mit
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