Das sechste Opfer (German Edition)
ist.
Nicole geht zum Briefkasten, der schon seit einiger Zeit nicht mehr geleert wurde, und blättert kurz durch die Werbeprospekte, Rechnungen und Zeitschriften, um dann das ganze Zeug auf den Beifahrersitz des Wagens zu werfen, mit dem sie gekommen war.
Dann schließt sie die Tür auf und verschwindet im Haus. Es ist mal wieder eine merkwürdige Situation, hier zu stehen und nicht eingreifen zu können. Dabei bin ich mir nicht einmal sicher, ob ich ihr jetzt wirklich nahe sein und sie in den Arm nehmen möchte. Sie scheint schon so fremd und weit entfernt von mir, als hätte meine neue Identität nicht nur mein vorheriges Leben, sondern auch meine alten Gefühle ausgelöscht.
Doch wenigstens siegt die Neugier auf den anderen Kerl in mir. Es ist schon unglaublich, wie schnell sich Frauen von so einem Schicksalsschlag wie dem Verlust ihres geliebten Mannes wieder erholen können und Trost in den Armen eines anderen finden. Dabei hatte ich immer gedacht, dass Nicole anders wäre. Aber offenbar ist sie es nicht.
Ich gehe zu dem Wagen und schaue hinein. Der Kerl hat lange Beine, denn der Fahrersitz ist weit zurückgeschoben. Auf dem Rücksitz liegen eine Decke, ein Eiskratzer, Sonnencreme und ein Schirm. Offenbar ist er ein Mann, der auf alle Eventualitäten vorbereitet ist und kein Chaot wie ich. Kein Wunder, dass Nicole mit ihm zusammen ist.
Ich sehe mich um, und als weit und breit kein Mensch in Sicht ist, knacke ich das Schloss des Wagens mit Hilfe meines Taschenmessers, das ich jetzt immer mit mir herumtrage. Den Elektroschocker habe ich wieder aufgegeben und in die Spree geworfen, aber das Messer bleibt stets in meiner Reichweite.
Und es ist auch wirklich sehr nützlich, wie in diesem Moment. Mit einem sanften Plopp öffnet sich die Tür. Ich setze mich in den Wagen und mache das Handschuhfach auf, wo ich ein paar Papiere finde, die alle für einen gewissen Knut Hansen bestimmt sind. So heißt der Kerl offenbar. Vom Namen her scheint er ein Norddeutscher zu sein, vermutlich ein Rostocker.
Schließlich fällt mein Blick auf die Post, die durcheinander auf dem Beifahrersitz liegt. Ich sehe sie kurz durch, bis mir neben all den Rechnungen und Mahnungen eine bunte Karte in die Hand fällt. Sie zeigt einen sonnigen, menschenleeren Strand mit Palmen und Kokosnüssen im weißen Sand. Als ich die Karte herumdrehe, um zu sehen, wer an diesem wunderschönen Fleckchen Erde gerade Urlaub macht und damit von dem ganzen Geschehen hier überhaupt nichts mitbekommen hat, lese ich lediglich ein Wort: Danke .
Ein leiser Schauer läuft meinen Rücken hinunter, denn ich ahne, wer der Absender dieser Karte ist. Hatte nicht Degenhardts Tante erzählt, dass Clara in Südamerika war, bevor sie wieder hierher kam, um ihr mieses Spiel mit mir zu spielen?
Das Kleingedruckte der Karte erklärt, dass es sich um einen Strand in Brasilien handelt. Südamerika.
Ich nehme die Karte und stecke sie ein. Dann steige ich aus dem Wagen und gehe zurück zu meinem kleinen Gefährt. Nachdem ich meinen Pass, das Auto, die Unterkunft in der Pension und neue Kleidung für mich bezahlt und der alten Frau in dem Krimskram-Laden das Geld zurückgegeben habe, das ich ihr am Anfang meiner Odyssee gestohlen hatte, besitze ich noch siebenhundert Euro von meinem Kopfgeld. Das würde genau für einen Flug nach Südamerika reichen, denn eine Rechnung ist bei dieser ganzen Geschichte, die mir passiert ist, noch offen. Auch wenn mich ihre Karte wieder etwas milder gestimmt hat, so kommt der Groll gegen die Frau, die mich so gnadenlos reingelegt und ins Unglück gestürzt hat, doch wieder hoch. Mit Clara habe ich noch ein Hühnchen zu rupfen. Sie war der Auslöser für alles, was mir passiert ist. Und außerdem denke ich noch immer manchmal nachts an ihren zarten Bauch und ihre blitzenden Augen.
Ich hole die Karte wieder aus meiner Tasche. Clara mit ihrem süßen Lächeln und dem verführerischen Körper.
Jetzt muss ich mich sowieso entscheiden, was ich in Zukunft machen will, wohin der Wind mich treiben wird. Warum nicht nach Südamerika? Ich sehe mir noch einmal die Karte genauer an. Sie gibt leider nicht viele Anhaltspunkte für Claras genauen Aufenthaltsort, aber das sollte mich nicht abschrecken. Ich bin gut im Recherchieren.
Ende
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»Eine Leiche zum Nachtisch«
von Martin Johannson
Krimi
Prolog
Es gab keinen brutaleren Mörder als die Berge. Vielleicht noch das Meer. Und die Wüste – wahrscheinlich auch die Stadt. Und wenn man es recht
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