Das Siebte Kind - Das Geschenk der Telminamas (German Edition)
jenseitige Ufer und breiteten ihre knorrigen Äste bis zu ihm herüber aus.
Soeben bemerkte Sid einen kleinen, bräunlichen Vogel, der mit munterem Gezwitscher davonflog, und er fuhr sich verwirrt durch die Haare. Vermutlich musste er gestorben sein. Aber wieso war es so hell um ihn herum? Wo war die Finsternis, mit der er gerechnet hatte? Er war doch im Land der Toten, oder etwa nicht?
Als Sid aufmerksam die Umgebung musterte, bemerkte er mit einem Mal das sanfte Flimmern, das überall die Luft erfüllte. Plötzlich verstärkte sich das Funkeln um die Eichen herum, und eine nahezu durchsichtige, handgroße Gestalt schwebte aus dem Blätterdach hervor und kam über das Wasser herüber. Sid war von dem Anblick dieses ganz leicht bläulich schimmernden Wesens so gefesselt, dass er wie versteinert sitzen blieb. Das sonderbare Ding kam immer näher und näher, doch anstatt Angst zu verspüren, fühlte Sid ein immer stärker werdendes Verlangen, diese Erscheinung zu berühren.
Wie einer geheimen Anziehungskraft folgend, flog die kleine Gestalt unablässig auf Sid zu, bis sie nur noch wenige Schritte von ihm entfernt war. Und da erkannte Sid seine eigene Gestalt in dem elfenhaften Wesen, das sich nun zärtlich an seine Brust schmiegte und mit einem Mal in seinem Innern verschwand. Sid vergaß völlig, weiter zu atmen, denn der Moment war so unglaublich schön. Er fühlte sich, als ob ein warmer, goldglänzender Tropfen in sein Herz eingedrungen wäre und nun alles in ihm mit einem wundervollen Strahlen erfüllte. Das erste Mal in seinem Leben glaubte Sid, vollkommen zu sein.
Nachdem er sich gefangen hatte, betastete er vorsichtig seinen Oberkörper, aber alles war in Ordnung mit ihm. Er hatte keinen Schaden genommen. Erleichtert raffte er sich auf und blickte um sich. Die Luft schimmerte immer noch, aber es tauchte keine weitere elfenartige Gestalt mehr auf. Jetzt erst bemerkte Sid die hohen Berge, die im Nordwesten aus der weiten, sattgrünen Ebene aufragten. Ganz oben auf den Gipfelspitzen lag wahrhaftig noch ein wenig Schnee. Von dort musste er wohl gekommen sein, dachte Sid und entschloss sich, dem Fluss in entgegengesetzter Richtung weiter zu folgen. Er zog seinen Mantel aus, stopfte ihn in seinen Rucksack und machte sich auf den Weg.
Einige Stunden wanderte Sid also in Richtung Südosten an dem grasbewachsenen Ufer entlang und ließ sich hier und da unter den Hängeweiden nieder, die sich an dem Wasserlauf angesiedelt hatten, und die ihm mit ihren weit überhängenden Zweigen ein angenehm schattiges Plätzchen zum Ausruhen boten. Sid fühlte sich so gut wie schon lange nicht mehr. Es war endlich wieder Sommer. Endlich wieder hell und warm. Die Tiere um ihn herum waren lebendig und freuten sich ihres Daseins. Bienen, Käfer und Schmetterlinge schwirrten durch die Luft, Vögel sangen um die Wette. Immer wieder schaute Sid begierig hinauf in den wolkenlosen Himmel und fragte sich, wie es nur hatte passieren können, dass seine Heimat in diesem ewigen Nebel gefangen war.
Die Landschaft, durch die Sid bis zum Abend kam, änderte sich wenig, abgesehen von ein paar niedrigen Hügeln, die nun in südlicher Richtung in Erscheinung traten, aber überall, wo er genauer hinblickte, fiel ihm das leichte Glitzern der Luft auf; er rätselte, was das wohl zu bedeuten hatte. Als die Sonne noch zwei Handbreit über dem Horizont stand und ihr orangegoldenes Licht über den Fluss und die weite Ebene sandte, war plötzlich ein ganz leises Schnauben zu hören. Sid schirmte mit seiner Hand die Sonne von seinem Gesicht ab und spähte hinüber zu der sanften Hügelkette, die sich rechts vor ihm aus der Ebene erhob. Tatsächlich, nach einer Weile tauchten dort zwei Reiter auf. Wieder empfand Sid keine Furcht, im Gegenteil, er war davon überzeugt, dass er und die beiden Unbekannten sehr schnell gute Freunde sein würden, und er blickte ihnen neugierig entgegen.
Die Fremden saßen auf schneeweißen Hengsten und waren mit hellen Stoffhosen und Stoffhemden bekleidet. Als sie näher heran trabten, erkannte Sid, dass es sich bei den beiden Männern wohl um Vater und Sohn handelte. Ihr annähernd gleich dunkelblondes Haar, das ihnen bis zu den Schultern reichte, und dieselben kurz gehaltenen Bärte verrieten ihre enge Verwandtschaft, und doch besaßen die beiden völlig unterschiedliche Augen. Der ältere Mann besaß eine eher grünliche Irisfarbe und der jüngere eine hellblaue. Hellblau wie der Himmel heute Nachmittag. Überrascht stellte
Weitere Kostenlose Bücher