Das Siegel der Tage
ihnen ausgegangen, und aus Angst vor dem Verdursten, hatte der eine den anderen um einen schnellen Tod gebeten, und der hatte ihn erstochen. Der genaue Hergang blieb ungeklärt, aber der Richter kam zu der Überzeugung, der Täter sei vor Durst nicht bei Sinnen gewesen, und setzte ihn gegen eine minimale Geldstrafe auf freien Fuß. Die Reportage erwies sich als keine leichte Aufgabe, denn obwohl die Vorgänge Aufsehen erregt hatten, gipfelten sie doch nicht in einem spektakulären Gerichtsprozeß, und weder der Angeklagte noch seine Freunde oder Angehörigen waren bereit, mit Jason zu sprechen, der sich mit dem begnügen mußte, was er am Ort des Geschehens fand und was die Ranger und die Polizei ihm sagten. Trotz des spärlichen Materials gelang ihm eine Reportage, die packend und spannungsreich war wie ein Krimi. Die Zeitschrift war seit einer Woche erschienen, als ein Verlag bei Jason anfragte, ob er nicht ein Buch über den Fall schreiben wolle, man zahlte ihm einen für einen Erstling außergewöhnlich hohen Vorschuß, und das Buch erschien unter dem Titel Journal of the Dead , Tagebuch des Toten. Der Text erregte die Aufmerksamkeit einiger Filmproduzenten, und Jason verkaufte die Filmrechte. Über Nacht war er drauf und dran, ein zweiter Truman Capote zu werden. Vom Journalismus gelang ihm spielend der Übergang zur Schriftstellerei, genau wie ich es nach seiner ersten Kurzgeschichte, die er mir zeigte, vermutet hatte, als er mit achtzehn in eine Wolldecke gewickelt bei Willie herumlungerte, wie ein Schlot rauchte und nachmittags um vier sein erstes Bier trank. Das war dieZeit, als er sich nicht von der Familie hatte lösen wollen und uns nachmittags im Büro anrief, um zu fragen, wann wir nach Hause kämen und was wir ihm zu essen kochen würden. Jetzt ist er der einzige, der ohne jede Unterstützung auskommt. Mit dem, was ihm Buch und Film eintrugen, wollte er eine Wohnung in Brooklyn kaufen. Judy schlug vor, sich zur Hälfte daran zu beteiligen, und stellte unter den großen Augen von Jason und der übrigen Familie einen sechsstelligen Scheck aus. Sie hat seit ihrer Jugend hart gearbeitet, weiß ihr Geld gut anzulegen und ist genügsam. Jason hat mit ihr das große Los gezogen, aber sie will ihn erst heiraten, wenn er aufhört zu rauchen.
Die buddhistischen Mütter
Fu und Grace hatten Sabrina nicht offiziell adoptiert, weil sie das nicht für notwendig gehalten hatten, aber dann wurde Jennifers früherer Lebensgefährte aus dem Gefängnis entlassen, wo er wegen irgendeiner Schweinerei gelandet war, und bekundete die Absicht, seine Tochter zu sehen. Er hatte sich nie zu einem Bluttest bereit gefunden, um die zweifelhafte Vaterschaft zu klären, und wie die Dinge lagen, hatte er sowieso jedes Recht an dem Kind verwirkt, aber seine Stimme am Telefon schreckte die Mütter auf. Der Mann wollte das Mädchen an den Wochenenden zu sich nehmen, was sie keinesfalls erlauben wollten, ob er nun der Vater war oder nicht, denn sein Vorstrafenregister und sein Lebenswandel waren ihnen nicht geheuer. Es war an der Zeit, daß Sabrina auch von Rechts wegen ihre Tochter würde. Das Verfahren fiel mit dem Tod von Grace’ Vater zusammen, der fünfundsiebzigjährig nach einem Leben als Raucher mit kaputter Lunge in einem Krankenhaus in Oregon am Beatmungsgerät hing. Oregon ist der einzige Bundesstaat, in dem niemand nach dem Gesetz ruft, wenn ein Kranker, für den keine Hoffnung auf Besserung besteht, den Moment seines Todes selbst wählt. Grace’ Vater dachte wohl, weiter dieses Hundeleben zu führen würde ein Vermögen verschlingen und sei die Sache nicht wert. Er rief seine Kinder zu sich, die von fern anreisten, und erklärte ihnen mit Hilfe seines Computers, er habe sie hergebeten, um sich zu verabschieden.
»Wo willst du denn hin, Papa?«
»In den Himmel, falls man mich reinläßt«, erschien auf dem Bildschirm.
»Und wann gedenkst du zu sterben?« fragten sie amüsiert nach.
»Wie spät ist es?« wollte der Patient daraufhin wissen.
»Zehn.«
»Sagen wir um die Mittagszeit. Was meint ihr?«
Und Punkt zwölf, als er sich von jedem seiner fassungslosen Nachkommen einzeln verabschiedet und sie damit getröstet hatte, diese Lösung sei für sie alle und vor allem für ihn die beste, weil er nicht jahrelang künstlich beatmet werden wolle und sehr neugierig auf das sei, was sich auf der anderen Seite des Todes befinde, kappte er die Verbindung und ging – froh.
Für Sabrinas Adoption war eine Richterin aus San
Weitere Kostenlose Bücher