Das Siegel der Tage
Reifenwerbemännchen von Michelin. »Darf ich hohe Schuhe tragen?« wollte ich wissen und hörte ein Seufzen am anderen Ende der Leitung.
Mitte Februar reiste ich mit Willie und der übrigen Familie nach Turin, das im internationalen Vergleich eine schöneStadt ist, nicht aber für die Italiener, die sich selbst von Venedig oder Florenz nicht beeindrucken lassen. Menschenmassen säumten die Straßen und bejubelten die Träger des olympischen Feuers und jedes der achtzig in verschiedene Farben gekleideten Teams, die gegeneinander antreten würden. Die besten Sportler der Welt waren hier versammelt, hatten von Kindesbeinen an trainiert, ihr ganzes bisheriges Leben auf die Teilnahme an den Spielen hingearbeitet. Alle hätten den Sieg verdient gehabt, aber manches läßt sich nicht vorhersehen: Eine Schneeflocke, ein Zentimeter Eis oder die Stärke einer Windbö können über das Ergebnis eines Wettkampfs entscheiden. Und doch, mehr als alles, mehr als Training und Glück zählt am Ende das Herz, denn nur wer wirklich beherzt und entschlossen ist, kann olympisches Gold gewinnen. Leidenschaft ist das Geheimnis des Siegers. In Turins Straßen verkündeten Plakate das Motto der Spiele, »Hier lebt die Leidenschaft«. Und das ist mein größter Wunsch, bis zum letzten Atemzug mit Leidenschaft zu leben.
Im Stadion lernte ich die übrigen Fahnenträgerinnen kennen: Drei Sportlerinnen, die Schauspielerinnen Susan Sarandon und Sophia Loren und die beiden politischen Aktivistinnen Wangari Maathai, Friedensnobelpreisträgerin aus Kenia, und Somaly Mam, die gegen sexuelle Ausbeutung von Kindern in Kambodscha kämpft. Außerdem wurde ich eingekleidet. Es war nicht die Art Sachen, die ich normalerweise trage, aber so grauenvoll, wie ich sie mir ausgemalt hatte, waren sie auch nicht: Pullover, Rock und Mantel aus winterweißer Wolle, Schuhe und Handschuhe ebenfalls weiß, alles von einem dieser sündteuren Designer. Tatsächlich war es gar nicht so schlecht. Ich sah aus wie ein Kühlschrank, aber die anderen auch, außer Sophia Loren, die mit ihren paar siebzig noch immer groß, imposant, vollbusig und sinnlich ist. Ich weiß nicht, wie sie es schafft, schlank zu bleiben, denn während der vielen Stunden hinterden Kulissen futterte sie pausenlos Kekse, Nüsse, Bananen, Schokolade. Und ich weiß auch nicht, wie sie sonnengebräunt sein kann, ohne Falten zu haben. Sophia stammt aus einer anderen Epoche, hat nichts zu tun mit den Mannequins und Schauspielerinnen von heute, die aussehen wie Knochengestelle mit künstlichen Brüsten. Ihre Schönheit ist legendär und offensichtlich unverwüstlich. Vor einigen Jahren sagte sie in einer Fernsehsendung, ihr Geheimnis bestehe darin, sich gerade zu halten und keine »Greisengeräusche« von sich zu geben, also kein Seufzen, Grunzen, Husten, Schnaufen, keine Selbstgespräche und abgelassenen Darmwinde. Du brauchst dir keine Gedanken zu machen, Paula, du wirst ewig achtundzwanzig sein, aber ich bin hoffnungslos eitel und habe versucht diesen Rat eins zu eins zu beherzigen, wenn ich Sophia schon sonst in nichts nacheifern kann.
Am stärksten war ich von Wangari Maathai beeindruckt. Sie arbeitet mit Frauen in afrikanischen Dörfern und hat dafür gesorgt, daß über dreißig Millionen Bäume gepflanzt wurden, womit sich in einigen Gebieten das Klima und die Beschaffenheit des Bodens veränderte. Diese wundervolle Frau strahlt wie eine Sonne, und als ich sie sah, verspürte ich den unbändigen Wunsch, sie zu umarmen, was mir sonst nur bei gewissen jungen Männern passiert, aber nie bei einer Dame, wie sie eine ist. Ich drückte sie fest ans Herz und konnte sie nicht mehr loslassen; sie war selbst wie ein Baum, stark, solide, gelassen, nicht aus der Ruhe zu bringen. Verdutzt über meinen Gefühlsausbruch, schob Wangari mich vorsichtig von sich.
Die Olympischen Spiele wurden mit einem aufwendigen Spektakel eröffnet, an dem Tausende Personen Anteil hatten: Schauspieler, Tänzer, Statisten, Musiker, Techniker, Produzenten. Irgendwann gegen elf am Abend, als die Temperatur unter Null gesunken war, wurden wir zu unserem Startpunkt hinter den Kulissen gebracht undbekamen die riesige olympische Fahne. Die Lautsprecher verkündeten das Finale der Feier, und dann erklang der »Triumphmarsch« aus Aida , und das ganze Stadion sang mit. Sophia Loren ging vor mir. Sie ist einen guten Kopf größer als ich, ihre auftoupierte Haarmähne nicht mitgerechnet, und sie schritt elegant aus wie eine Giraffe in der
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