Das Siegel der Tage
Savanne, wobei sie die Fahne auf Schulterhöhe hielt. Ich trippelte auf Zehenspitzen hinterher und streckte den Arm hoch, so daß mein Kopf unter der verflixten Fahne war. Natürlich richteten sich alle Kameras auf Sophia Loren, was mir am Ende sehr gelegen kam, weil ich auf sämtlichen Pressefotos zu sehen bin, wenn auch bloß durch ihre Beine. Ich muß dir gestehen, ich war überglücklich, und Nico und Willie, die mir mit vor Stolz feuchten Augen von der Tribüne aus zujubelten, behaupten sogar, daß ich über dem Boden schwebte: Diese vier Minuten im Olympiastadion waren meine wunderbaren »minutes of fame«. Ich habe die Berichte und Fotos aus den Zeitungen ausgeschnitten, weil es das einzige ist, was ich nicht vergessen will, wenn alles übrige der senilen Tatterigkeit zum Opfer fällt.
Der böse Weihnachtsmann
Aber nehmen wir den Faden wieder auf, sonst gerät uns alles durcheinander, Paula. Wir schlossen Sally ins Herz, Jasons Freundin, eine zurückhaltende junge Frau, die wenig redete und sich nie in den Vordergrund drängte, aber immer aufmerksam und hilfsbereit war. Für die Kinder hatte sie ein Händchen wie eine gute Fee. Sie war klein, in unaufdringlicher Weise hübsch, mit glatten blonden Haaren, schminkte sich nicht und sah aus wie fünfzehn. Sie arbeitete in einer Einrichtung für straffällige Jugendliche, was Mut und Durchsetzungsfähigkeit erforderte. In aller Herrgottsfrühe stand sie auf und verließ das Haus, und wir sahen sie erst am Abend wieder, wenn sie sich hundemüde heimschleppte. Einige der Jugendlichen, für die sie zuständig war, saßen wegen bewaffneter Raubüberfälle, und sie waren zwar noch minderjährig, aber groß wie Riesenfaultiere; mir ist schleierhaft, wie die spatzenzarte Sally sich bei ihnen Respekt verschaffte. Als einer dieser Schlägertypen sie eines Tages mit einem Messer bedrohte, bot ich ihr eine etwas weniger gefährliche Stelle in meinem Büro an, wo Celia die Arbeit über den Kopf zu wachsen drohte. Die beiden waren gut befreundet, Sally unterstützte Celia immer gern mit den Kindern und leistete ihr Gesellschaft, weil Nico zehn Stunden am Tag mit Englischlernen und Arbeiten außer Haus verbrachte. Mit der Zeit lernte ich Sally besser kennen und mußte Willie recht geben, daß sie nur wenig mit Jason gemeinsam hatte. »Halt dich raus«, wies Willie mich an. Aber wie hätte ich mich raushalten sollen, wo die beiden doch bei uns wohnten und Sallys Brautkleid aus baiserfarbener Spitze in meinem Kleiderschrank hing. Sie wollten heiraten, sobald Jason seinen Abschluß hätte, das jedenfalls behauptete er, aber Sally ließ keine Ungeduld erkennen, die beidenwirkten eher wie ein Paar gelangweilter Mittfünfziger. Diese neumodischen, langen und entspannten Verlobungszeiten sind mir nicht geheuer; zur Liebe gehört ungeduldiges Verlangen. Großmutter Hilda, die das Unsichtbare wahrnahm, meinte, Sally würde Jason nicht aus Liebestollheit heiraten, sondern um weiter bei unserer Familie zu bleiben.
Der einzige vorübergehende Job, den Jason nach dem College fand, war der als absurd und viel zu warm angezogener Weihnachtsmann in einem Supermarkt. Zumindest verhalf ihm das zu der Einsicht, daß er besser weiterstudierte, um einen akademischen Abschluß zu bekommen. Er erzählte, die meisten Weihnachtsmänner seien arme Schlucker, die angetrunken zur Arbeit erschienen, und einige würden die Kinder befummeln. Deshalb entschied Willie, daß unsere Kinder einen eigenen Weihnachtsmann bekommen sollten, und kaufte sich ein herrliches Kostüm aus rotem Samt mit echtem Kaninchenfellbesatz, dazu einen glaubhaften Vollbart und Wildlederstiefel. Ich hatte für etwas Preisgünstigeres plädiert, mußte mir aber anhören, eine Allerweltsverkleidung ziehe er nicht an und außerdem lägen viele Jahre vor uns, in denen sich das Kostüm amortisieren werde. Für Weihnachten luden wir ein Dutzend Kinder mit ihren Eltern ein; zu festgelegter Stunde dämpften wir das Licht, jemand spielte auf der elektrischen Orgel ein Weihnachtslied, und Willie kletterte mit einem Sack voller Geschenke durchs Fenster. Die kleinsten Kinder stoben panisch auseinander, außer Sabrina, die vor nichts Angst hat. »Ihr habt aber viel Geld, wenn der Weihnachtsmann hierherkommt, der hat doch heute abend so viel zu tun«, sagte sie. Die größeren Kinder waren begeistert, bis eins von ihnen behauptete, es glaube nicht an den Weihnachtsmann, und Willie wütend schnaubte: »Dann kriegst du kein Geschenk, du kleiner
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