Das Siegel der Tage
Mistkäfer.« Das war das Ende vom Fest. Auf der Stelle argwöhnten die Kinder, daß Willie unter dem Bart steckte – wer sonst? –, aber Alejandrobeendete die Diskussion mit einem schlagenden Argument: »Wir sollten das nicht wissen. Es ist wie mit dem Mäuschen, das eine Münze bringt, wenn uns ein Zahn ausfällt. Besser, unsere Eltern halten uns für doof.« Nicole war damals noch zu klein, um bei der Farce mitzuspielen, aber in den nächsten Jahren nagten die Zweifel schwer an ihr. Sie hatte schreckliche Angst vorm Weihnachtsmann, und an Heiligabend mußte jemand mit ihr im Bad bleiben, wo sie bibbernd wartete, bis wir ihr versicherten, daß der schlimme Alte in seinem Schlitten zum nächsten Haus weitergefahren war. Einmal kauerte sie mit langem Gesicht neben dem Klo und weigerte sich, ihre Geschenke auszupacken.
»Was hast du denn, Nicole?« wollte ich wissen.
»Sag mir die Wahrheit. Ist Willie der Weihnachtsmann?«
»Ich glaube, das fragst du ihn besser selbst«, sagte ich, weil ich fürchtete, sie werde ihr Vertrauen in mich verlieren, wenn ich sie jetzt anlog.
Willie nahm sie an der Hand, verschwand mit ihr in dem Zimmer, in dem das Kostüm lag, das er eben ausgezogen hatte, und gab alles zu, nachdem er ihr eingeschärft hatte, daß es ein Geheimnis nur zwischen ihnen beiden sei und sie es den anderen Kindern nicht weitersagen dürfe. Meine jüngste Enkeltochter kam zu uns zurück, verkroch sich mit demselben langen Gesicht in eine Ecke und rührte ihre Geschenke nicht an.
»Und was hast du jetzt, Nicole?« fragte ich wieder.
»Ihr habt die ganze Zeit über mich gelacht! Ihr habt mein Leben zerstört!« Damals war sie noch keine drei …
Ich sprach mit Jason darüber, wie sehr ich beim Schreiben von meiner früheren Tätigkeit als Journalistin profitiert hatte, und schlug ihm vor, als ersten Schritt in seiner literarischen Laufbahn das Journalistenhandwerk zu lernen. Ein Journalist muß recherchieren können, Sachverhalte auf den Punkt bringen, unter Druck arbeiten und die Sprachewirkungsvoll einsetzen; außerdem darf er den Leser nicht aus dem Blick verlieren, was Schriftstellern häufig unterläuft, weil sie in Gedanken bei der Nachwelt sind. Nachdem ich lange gedrängt und gegen seine Selbstzweifel angeredet hatte, bewarb Jason sich schließlich an verschiedenen Universitäten und war selbst überrascht, als er von allen eine Zusage erhielt und also frei war, an der renommiertesten Journalistenschule des Landes zu studieren, an der Columbia University in New York. Sein Fortgang entfernte ihn weiter von Sally, und ich rechnete damit, daß diese laue Beziehung nun vollständig abkühlen würde, auch wenn die beiden weiter von Heirat sprachen. Sally blieb uns erhalten, arbeitete mit mir und Celia zusammen, half mit den Kindern: Sie war die perfekte Tante. Jason zog 1995 aus mit dem Vorsatz, nach seinem Studium nach Kalifornien zurückzukommen; von allen Kindern Willies war Jason am meisten auf ein Leben im Clan erpicht. »Ich mag es, eine große Familie zu haben; diese Mischung aus Nordamerikanern und Latinos klappt wie am Schnürchen«, sagte er mir einmal. Dazu hatte er selbst seinen Teil beigetragen, indem er ein paar Monate in Mexiko verbrachte und schließlich sehr gut Spanisch sprach, mit demselben Gangsterakzent wie Willie. Wir sind immer gute Freunde gewesen, wir teilen die Schwäche für Bücher und saßen oft mit einem Glas Wein zusammen auf der Terrasse, erzählten einander die Handlung möglicher Romane und einigten uns, wer welchen schreiben würde. Für ihn waren du und Ernesto, Celia und Nico genauso seine Geschwister wie seine leiblichen, und am liebsten wäre ihm gewesen, wir wären immer zusammengeblieben; aber nach deinem Tod und Jennifers Verschwinden versanken wir in Trauer und die Bindungen rissen ab oder änderten sich. Heute, Jahre später, sagt Jason, die Familie sei vor die Hunde gegangen, aber ich erinnere ihn daran, daß Familien sich, wie fast alles auf der Welt, verändern und weiterentwickeln.
Ein gewaltiger Felsklotz
Celia und Willie stritten sich lautstark und leidenschaftlich, ob es nun um Kinkerlitzchen oder um Grundsätzliches ging.
»Schnall dich an, Celia«, sagte er im Auto zu ihr.
»Hinten ist das nicht vorgeschrieben.«
»Doch.«
»Nein!«
»Mir piepegal, ob es vorgeschrieben ist! Das ist mein Auto, und ich fahre! Schnall dich an oder steig aus!« schnaubte Willie, zornrot im Gesicht.
»Verdammt! Dann steig ich aus!«
Schon als Kind hatte sie dagegen
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