Das Siegel der Tage
später, wirkt diese Besetzung auf mich wie aus Stummfilmzeiten. Die Zeit ist gnadenlos.
Wegen des Romans waren etliche meiner Verwandten mütterlicherseits böse auf mich gewesen, die einen, weil sich unsere politischen Ansichten extrem unterscheiden, die anderen, weil sie meinten, ich hätte Familiengeheimnisse ausgeplaudert. »Schmutzige Wäsche wird zu Hause gewaschen«, ist ein Leitspruch in Chile. Als Vorlage zu dem Buch hatten mir meine Großeltern, einige Onkel und Tanten und andere extravagante Personen aus meiner vielköpfigen chilenischen Sippe gedient, und ich hatte viele Anekdoten, die mein Großvater über die Jahre erzählte, und auch die politischen Ereignisse der Zeit verarbeitet, aber im Traum wäre ich nicht auf die Idee gekommen, daß einige Leute das alles für bare Münze nehmen würden. Meine Darstellung der Ereignisse ist eigenwillig und überspitzt. Meine Großmutter konnte nie wie Clara del Valle mit der Kraft ihrer Gedanken den Billardtisch bewegen, und mein Großvater war auch kein Vergewaltiger und Mörder wie Esteban Trueba im Roman. Dessen ungeachtet sprach über viele Jahre ein Teil meiner Anverwandten nicht mit mir oder ging mir aus dem Weg. Ich hätte gedacht, der Film würde wie Salz in der Wunde sein, aber im Gegenteil: Das Kino ist so übermächtig, daß der Film zur offiziellen Geschichte meiner Familie geriet, und angeblich haben die Fotos von Meryl Streep und Jeremy Irons heuteauf manchem Kaminsims die Porträts meiner Großeltern ersetzt.
In den Vereinigten Staaten raunte man, der Film werde die Oscars in Hollywood abräumen, aber schon ehe er anlief, gab es schlechte Kritiken, weil trotz des Themas die Rollen nicht mit Südamerikanern besetzt waren. Es hieß, wenn man früher einen Schwarzen auf der Leinwand benötigte, habe man einen Weißen mit Schuhcreme angemalt, und wenn man heutzutage einen Latino wolle, klebe man einem Weißen einen Schnauzbart an. Gedreht wurde in Europa, der Regisseur war Däne, das Geld kam aus Deutschland, die Schauspieler stammten aus Nordamerika und England, Filmsprache war Englisch. Chilenisch war wenig an dem Film, aber ich fand ihn eigentlich besser als das Buch und bedauerte, daß er schon im Vorfeld schlechtgeredet wurde. Monate vor dem Kinostart hatte der Regisseur Bille August Willie und mich zu den Dreharbeiten ins Studio nach Kopenhagen eingeladen. Die Außenaufnahmen wurden auf einer Finca in Portugal gemacht, die dadurch zur touristischen Sehenswürdigkeit avancierte, und die Innenaufnahmen in einem nachgebauten Haus in einem Studio in Dänemark. Möbel und Dekoration hatte man in Antiquitätenläden in London geliehen. Ich wollte ein emailliertes Döschen als Souvenir mitgehen lassen, aber alle Sachen trugen Nummern, und jemand führte Buch darüber. Also bat ich um den Kopf von Vanessa Redgrave, bekam ihn aber nicht. Diese Nachbildung aus Wachs, die in einer Szene in einer Hutschachtel hätte zu sehen sein sollen, wurde am Ende gar nicht verwendet, weil man fürchtete, sie werde im Publikum anstelle des gewünschten Gruseleffekts Heiterkeit hervorrufen. Was aus dem Kopf wohl geworden ist? Vielleicht steht er auf Vanessas Nachttisch, um sie an die Vergänglichkeit allen Seins zu gemahnen. Ich hätte ihn über Jahre gut gebrauchen können, um bei jedem Smalltalk das Eis zu brechen und um meine Enkel zu erschrecken. Zu Hauseim Keller hatte ich schon Totenschädel, Piratenkarten und Schatztruhen versteckt – soll die Phantasie angeregt werden, geht nichts über eine Kindheit in Angst und Schrecken.
Eine Woche lang lebten Willie und ich auf Tuchfühlung mit den Stars und wie die wirklich wichtigen Leute. Jeder Schauspieler hatte einen Hofstaat aus Helfern um sich, Maskenbildner, Friseure, Masseure, Köche. Meryl Streep, schön und unnahbar, war in Begleitung ihrer Kinder und der jeweiligen Kindermädchen und Hauslehrer. Eine ihrer kleinen Töchter, die das Talent und das ätherische Aussehen ihrer Mutter geerbt hat, spielte ebenfalls in dem Film mit. Glenn Close, mit mehreren Hunden und deren Betreuerinnen am Set, hatte mein Buch sehr aufmerksam gelesen, um sich auf die Rolle der alten Jungfer Férula vorzubereiten, und wir unterhielten uns stundenlang angeregt. Sie fragte mich, ob die Beziehung zwischen Férula und Clara nicht vielleicht lesbisch sei, und ich wußte nicht darauf zu antworten, weil der Gedanke mich überraschte. In Chile hat es zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, also zu der Zeit, in der dieser Teil des Romans
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