Das Siegel der Tage
einen ganzen Monat vor mir geheimhalten konnte.
»Seid ihr verliebt?« fragte ich ihn.
»Das fände ich etwas früh«, antwortete er, vorsichtig wie immer.
»Für die Liebe ist es nie zu früh, schon gar nicht in deinem Alter, Nico.«
»Ich bin gerade mal dreißig!«
»Dreißig? Ehrlich? Du hast dir doch erst gestern beim Rollschuhfahren die Knochen gebrochen und mit deiner Schleuder Eier auf Leute gefeuert! Die Zeit verfliegt, mein Sohn, man sollte sie nicht verplempern.«
Jahre später erzählte mir Amanda, am Tag nachdem mein Sohn Lori kennengelernt hatte, habe er sich mit einer gelben Rose in der Hand vor ihrem Studio die Beine in den Bauch gestanden, und als sie endlich zum Mittagessen herauskam und ihn dort wie einen Säulenheiligen unter der sengenden Sonne stehen sah, habe er behauptet, er sei »zufällig vorbeigekommen«. Er kann nicht lügen, die Verlegenheitsröte verriet ihn.
Bald schon war der Mann, mit dem Lori ein Techtelmechtel hatte, ohne Aufhebens von der Bildfläche verschwunden. Er war ein ziemlich bekannter Reisefotograf, fünfzehn Jahre älter als sie, hielt sich für unwiderstehlich und mochte es auch gewesen sein, ehe die Eitelkeit und die Jahre ihn etwas peinlich wirken ließen. War er nicht auf einer seiner Reisen um die Welt, zog Lori zu ihm in seine Wohnung in San Francisco, in eine Mansarde ohne Möbel, aber mit einem überwältigenden Blick, wo die beiden höchst eigenwillige Flitterwochen verbrachten, die mehr an einen Bußaufenthalt im Kloster erinnerten. Lori ertrug klaglos den krankhaften Kontrollzwang dieses Mannes, seine Junggesellenmarotten und die betrübliche Tatsache, daß die Wände mit leichtbekleideten asiatischen Mädchen tapeziert waren, die er fotografierte, wenn er nicht im Antarktiseis oder Saharasand unterwegs war. Sie hatte sich an die Regeln des Zusammenlebens zu halten: Stille, Verbeugungen, keine Schuhe in der Mansarde, nichts anfassen, nicht kochen, weil er die Gerüche nicht ertrug, niemanden anrufen und erst recht niemanden einladen, das wäre eine unverzeihliche Respektlosigkeit gewesen. Man hatte auf Zehenspitzen zu gehen. Einziger Vorteil des guten Mannes war seine ständige Abwesenheit. Was fand Lori nur an ihm? Ihre Freundinnen begriffen es nicht. Zum Glück war sie es langsam leid, mit den asiatischen Kindern zu konkurrieren, und konnte sich ohne Schuldgefühle trennen, nachdem Amanda und andere Freundinnen sich alle Mühe gegeben hatten, denFotografen lächerlich zu machen und Nicos reale und auch einige angedichtete Vorzüge über den grünen Klee zu loben. Beim Abschied sagte er, sie solle sich an keinem der Orte blicken lassen, an denen sie zusammengewesen waren.
Ich erinnere mich an den Morgen, als die Liebe zwischen Nico und Lori spruchreif wurde. An einem Samstag überließ er uns die Kinder, für die es nichts Besseres gab, als bei den Großeltern zu übernachten, was Süßigkeiten und Fernsehen bis zum Überdruß bedeutete, und am Sonntagmorgen kam er die drei wieder abholen. Mir genügte ein Blick auf seine scharlachroten Ohren, ein sicheres Zeichen, daß er mir etwas verheimlichen will, um zu erraten, daß er die Nacht mit Lori verbracht hatte und es ihm also, so gut kannte ich ihn, ernst war. Drei Monate später wohnten sie zusammen.
Am Tag, als Lori mit ihren Sachen zu Hause bei Nico ankam, legte ich ihr einen Brief aufs Kopfkissen, in dem ich sie in unserer Sippe willkommen hieß und ihr sagte, daß wir sie erwartet hatten, wußten, daß sie irgendwo war und wir sie nur hatten finden müssen. Nebenbei gab ich ihr einen Rat, mit dem ich, hätte ich ihn selbst beherzigt, ein Vermögen an Therapiekosten hätte sparen können: die Kinder so hinzunehmen, wie man Bäume hinnimmt, dankbar, weil sie ein Segen sind, aber ohne Erwartungen oder Wünsche; man erwartet von Bäumen nicht, anders zu sein, man liebt sie, wie sie sind. Wieso ist mir das mit meinen Stiefsöhnen Lindsay und Harleigh nie gelungen? Hätte ich die beiden hingenommen wie Bäume, ich hätte mich vielleicht weniger mit Willie gestritten. So aber versuchte ich nicht nur, sie zu ändern, sondern wies mir selbst die undankbare Rolle zu, den Rest der Familie und unser Haus zu beschützen in den Jahren, als die beiden an der Nadel hingen. Außerdem schrieb ich in dem Brief an Lori, es sei unsinnig, das Leben der Kinder kontrollieren oder sie zu sehr behüten zu wollen. Wenn ich dich nicht vor dem Tod hatte behütenkönnen, Paula, wie sollte ich Nico und meine Enkel vor dem Leben
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