Das Siegel der Tage
Gefühle gehen zu lassen«, sagte meine Mutter bekümmert, denn ihr war es nicht anders ergangen,keins ihrer Kinder oder Kindeskinder lebt in ihrer Nähe. Ihre Worte lösten neues Zeter und Mordio aus, bis Onkel Ramón mich mit der Stimme der Vernunft unterbrach und daran erinnerte, daß Lori viele Zugeständnisse hatte machen müssen, um mit Nico zusammensein zu können: Sie hatte Stadt und Wohnung gewechselt, ihren Lebensstil verändert, sich an drei Stiefkinder und eine neue Verwandtschaft gewöhnt, aber am schlimmsten sei, daß ihr ständig die Schwiegermutter im Nacken sitze. Die beiden brauchten Luft und Raum, damit ihre Liebe gedeihen konnte, und mußten sich bewegen, ohne daß ich alles mitbekam. Er riet mir, mich unsichtbar zu machen, schließlich müßten Kinder sich von der Mutter freischwimmen oder sie würden ihr Lebtag nicht erwachsen. Und wenn ich es noch so gut meinte, sagte er, ich würde immer die Übermutter sein, eine Rolle, gegen die alle übrigen zwangsläufig aufbegehrten. Er hatte recht: Ich nehme in der Sippe unverhältnismäßig viel Raum ein, und mich zurückzunehmen wie Großmutter Hilda ist mir nicht gegeben. Willie bezeichnet mich als einen Wirbelsturm in einer Flasche.
Damals fiel mir ein Film von Woody Allen wieder ein, in dem er mit seiner Mutter, einem alten Dragoner mit einem Berg rostrot gefärbter Haare und Eulenaugen, zu einer Zaubervorführung ins Theater geht. Der Magier bittet um einen Freiwilligen aus dem Publikum, den er verschwinden lassen will, und ohne lange darüber nachzudenken, klettert die Frau auf die Bühne und krabbelt in eine Kiste. Der Zauberer macht seinen Hokuspokus, und die Frau löst sich für immer in Luft auf. Man sucht sie in der Zauberkiste, hinter den Kulissen, im ganzen Gebäude und auf der Straße – nichts. Am Ende sind Polizisten, Detektive, Feuerwehrmänner im Einsatz, aber alles Suchen bleibt ohne Erfolg. Überglücklich denkt ihr Sohn, er sei sie nun ein für allemal los, aber dann erscheint ihm die vermaledeite Alte auf einer Wolke, allgegenwärtig und unfehlbar wie Jehova. So einewar ich offenbar, eine Mamme aus einem jüdischen Witz. Unter dem Vorwand, meinen Sohn und meine Enkelkinder unterstützen und behüten zu wollen, hatte ich mich in eine Boa constrictor verwandelt. »Kümmer dich um deinen Mann, der Ärmste muß langsam genug haben von deiner Familie«, sagte meine Mutter noch. Willie? Genug von mir und meiner Familie? Darüber hatte ich nie nachgedacht. Aber es stimmte, Willie hatte dein Sterben und meine lange Trauer durchstehen müssen, die mein Wesen verändert und mich für mehr als zwei Jahre von ihm entfernt hatte, er hatte den Ärger mit Celia ausgehalten, Nicos Scheidung, meine ständigen Reisen, mein besessenes Schreiben, das mich immer mit einem Bein in einer anderen Welt gefangenhielt, und alles mögliche andere. Es war an der Zeit, daß ich den Karren voller Leute losließ, den ich, seit ich neunzehn war, hinter mir herzog, und mich mehr um Willie kümmerte. Ich gab mir einen Ruck, warf Nicos Hausschlüssel in den Müll und nahm mir vor, seinem Leben fernzubleiben, ohne allerdings ganz daraus zu verschwinden. An diesem Abend kochte ich Pasta mit Meeresfrüchten, eins von Willies Lieblingsgerichten, öffnete unsere beste Flasche Weißwein und erwartete ihn in einem roten Kleid. »Gibt’s was zu feiern?« fragte er verdutzt, als er heimkam und ließ die schwere Aktentasche auf den Boden plumpsen.
Lori in ihrem Element
Wir erlebten eine Zeit, in der viele familiäre Beziehungen neu austariert wurden. Mein Wunsch, eine Familie oder mehr noch eine kleine Sippe zu gründen und zu erhalten, war in mir wohl schon angelegt, als ich mit zwanzig Jahren zum erstenmal heiratete; er verstärkte sich mit unserem Fortgang aus Chile, denn als mein erster Mann und ich mit den Kindern nach Venezuela kamen, hatten wir dort weder Freunde noch Verwandte, außer meinen Eltern, die ebenfalls in Caracas Asyl suchten; endgültig zu einem Bedürfnis wurde dieser Wunsch, als ich in die USA einwanderte. Bevor ich in sein Leben trat, hatte Willie keine Ahnung, was es heißt, eine Familie zu haben; mit sechs Jahren hatte er seinen Vater verloren, seine Mutter war in eine spirituelle Privatwelt geflüchtet, zu der ihm der Zugang verwehrt blieb, seine beiden ersten Ehen scheiterten, und seine Kinder gerieten sehr früh in den Bann der Drogen. Zu Anfang konnte er nur schwer nachvollziehen, daß ich meine Kinder unbedingt zu mir holen, so nah wie
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