Das Siegel der Tage
den Weg durch einige auf Hügeln gelegeneSiedlungen bittersten Elends, in die kein Polizist, geschweige denn ein Tourist seinen Fuß setzte. In einem wesentlich bescheideneren terreiro als in Bahía empfing uns eine ältere Priesterin in Jeans. Sie wiederholte dasselbe Ritual mit den Muscheln, das ich in Bahía gesehen hatte, und sagte ohne Zögern, daß ich der Göttin Yemayá angehörte. Die beiden Hellseherinnen konnten sich unmöglich abgesprochen haben. Diesmal mußte Tabra sich die spöttischen Bemerkungen verkneifen.
Wir verließen die Favela und kamen auf dem Rückweg an einem kleinen Lokal vorbei, wo landestypisches Essen nach Gewicht verkauft wurden. Mir schien das pittoresker, als auf der Hotelterrasse Krabbencocktail zu Mittag zu essen, deshalb bat ich den Fahrer anzuhalten. Der Mann blieb im Wagen bei der Fotoausrüstung, während wir fünf Frauen uns vor dem Tresen in die Schlange stellten und darauf warteten, daß man uns das Essen mit einem Holzlöffel auf einen Pappteller häufte. Ich weiß nicht mehr, weshalb ich, gefolgt von Lori und Amanda, nach draußen ging, vielleicht um den Fahrer zu fragen, ob er auch etwas haben wolle. Auf der Schwelle des Lokals merkte ich, daß die Straße, die vorher voller Verkehr und Leben gewesen war, sich geleert hatte, es fuhren keine Autos, die Läden wirkten geschlossen, die Leute waren verschwunden. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite, etwa zehn Meter entfernt, wartete ein junger Mann in einer blauen Hose und einem kurzärmligen T-Shirt auf den Bus. Von hinten näherte sich ein ähnlich aussehender Mann, ebenfalls jung, in einer dunklen Hose und dem fast gleichen T-Shirt, und hielt unverhohlen eine große Pistole in der Hand. Er hob die Waffe, zielte auf den Kopf des anderen und drückte ab. Einen Moment begriff ich nicht, was geschehen war, weil der Schuß nicht knallte wie im Kino, sondern dumpf und trocken klang. Ein Schwall Blut trat aus, ehe der Getroffene stürzte. Und als er auf der Boden lag, schoß der Mörder noch viermal auf ihn.Dann ging er ruhig und herausfordernd die Straße hinunter davon. Ich näherte mich wie ferngelenkt dem blutenden Mann am Boden. Zweimal durchlief ein heftiges Zucken seine Körper, und dann lag er still, während die Lache aus glänzendem Blut um ihn größer und größer wurde. Ich schaffte es nicht mehr, mich hinunterzubeugen, weil meine Freundinnen und der Fahrer, der sich während des Verbrechens hinter das Lenkrad geduckt hatte, mich zum Wagen zerrten. Im nächsten Moment war die Straße wieder voller Menschen, ich hörte Schreie, Hupen, sah die Kunden aus dem Lokal laufen.
Die brasilianische Journalistin drängte uns, in den Wagen zu steigen, und wies den Fahrer an, uns durch Seitenstraßen zum Hotel zu bringen. Ich dachte, sie wolle dem Verkehrsstau ausweichen, der zweifellos entstehen würde, aber sie sagte, wir müßten der Polizei entgehen. Wir brauchten vierzig endlose Minuten für die Strecke. Unterwegs fielen mich Bilder vom Militärputsch in Chile an, die Toten in den Straßen, das Blut, der plötzliche Gewaltausbruch, dieses Gefühl, daß jeden Moment etwas geschehen kann, das dein Leben beendet, daß niemand sicher ist, nirgends. Im Hotel erwarteten uns mehrere Fernsehteams; auf unerklärliche Weise hatte die Presse Wind von dem Geschehenen bekommen, aber mein Verleger, der ebenfalls da war, erlaubte uns nicht, mit irgend jemandem zu reden. Er führte uns schleunigst in ein Zimmer und wies uns an, dort zu bleiben, bis er uns direkt zum Flugzeug bringen konnte, denn dieser Mord konnte zwar auch eine Abrechnung zwischen Kriminellen sein, aber die Art, wie er vonstatten gegangen war, am hellichten Tag auf offener Straße, deutete eher darauf hin, daß es sich um eine der berüchtigten Exekutionen der Polizei handelte, die damals völlig ungestraft das Gesetz in die eigenen Hände nahm. In der Presse und in der Öffentlichkeit wurde darüber gesprochen, aber es gab nie Beweise, und wenn es doch einmal welche gab, verschwandensie immer rechtzeitig. Als bekannt wurde, daß eine Gruppe von Ausländerinnen, darunter ich – meine Bücher sind einigermaßen bekannt in Brasilien –, Zeuge des Verbrechens geworden war, nahmen die Journalisten an, wir könnten den Mörder identifizieren. Wenn dem so wäre, versicherte man uns, würde mehr als einer versuchen, das zu verhindern. Wenige Stunden später saßen wir im Flugzeug nach Kalifornien. Die brasilianische Journalistin und der Fahrer mußten sich wochenlang
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