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Das Siegel der Tage

Das Siegel der Tage

Titel: Das Siegel der Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Allende
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um, Paula.

Die mongolischen Reiter
    Um die Jahresmitte hatte ich einen spektakulären Traum und schrieb ihn auf, um ihn später meiner Mutter zu erzählen, wie sie und ich das von jeher tun. Nichts ist langweiliger, als sich anderer Leute Träume anzuhören, Psychologen lassen sich das teuer bezahlen. Aber Träume sind für uns von entscheidender Bedeutung, weil sie uns dabei helfen, die Wirklichkeit zu verstehen und ans Licht zu bringen, was in den Nischen unserer Seele begraben liegt.
    Ich stand am Fuß einer zerklüfteten Steilküste, auf einem weißen Sandstrand, das Meer war dunkel und der Himmel von einem blanken Indigoblau. Plötzlich tauchten hoch oben auf der Klippe zwei gewaltige Schlachtrosse mit ihren Reitern auf. Pferde und Reiter waren ausstaffiert wie altertümliche asiatische Krieger – aus der Mongolei, aus China oder Japan – mit Standarten aus Seide, Troddeln und Fransen, Federn und heraldischem Zierrat, eine pompöse, in der Sonne funkelnde Zurschaustellung von Kampfkraft. Erst tänzelten die Pferde am Rand des Abbruchs, dann bäumten sie sich auf, wieherten und schnellten in einem engelsgleichen Flug ins Leere, Umhänge, Federn und Banner beschrieben einen weiten Bogen vor dem Himmel, und mir stockte der Atem beim Anblick dieser tollkühnen zentaurenhaften Wesen. Es war eine rituelle Tat, kein Selbstmord, eine Demonstration von Wildheit und Entschlußkraft. Kurz bevor sie den Boden berührten, senkten die Pferde den Kopf, trafen mit der Schulter auf, machten sich rund und überschlugen sich in einer Wolke aus goldenem Sand. Und als Staub und Getöse sich legten, erhoben sich die fuchsroten Pferde mit ihren Reitern auf dem Rücken wie in Zeitlupe und galoppierten am Strand entlang dem Horizont entgegen. Tage später, als mir die Bilder noch frisch vorAugen standen und ich versuchte, ihnen einen Sinn zu geben, begegnete ich einer Frau, die Bücher über Träume geschrieben hat. Ihre Deutung ähnelte dem, was die Muscheln des jogo de búzios in Brasilien gesagt hatten: Ein langer und dramatischer Zusammenbruch habe meine Willenskraft auf die Probe gestellt, doch sei ich wieder auf die Füße gekommen, hätte wie diese Pferde den Staub abgeschüttelt und liefe der Zukunft entgegen. Am Boden hatten die Pferde sich abzurollen gewußt, und die Reiter waren im Sattel geblieben. Sie sagte, die überstandenen Prüfungen hätten mich gelehrt zu fallen und ich solle mich nicht mehr fürchten, denn ich würde immer wieder auf die Füße kommen. »Denk an diese Pferde, wenn du spürst, daß deine Kräfte schwinden«, sagte sie.
    Ich dachte einige Tage später an sie bei der Premiere eines Theaterstücks, das auf meinem Buch Paula basiert.
    Unterwegs ins Theater kamen wir bei der Folsom Street Fair in San Francisco vorbei. Nichtsahnend gerieten wir in diese Parade der Sadomasochisten hinein: So weit das Auge reichte, waren die Straßen überfüllt von Menschen in der extravagantesten Aufmachung. »Freiheit! Freiheit, zu tun, wozu ich Bock habe!« brüllte ein Herr in einer Mönchskutte, die vorn klaffte und den Blick auf einen Keuschheitsgürtel freigab. Tätowierungen, Masken, russische Revolutionärsmützen, Ketten, Peitschen, Büßerhemden aller Art. Lippen und Fingernägel der Frauen waren schwarz oder grün angemalt, sie trugen Stiletto-Stiefel, Strapse aus schwarzem Latex, kurz, alles, was dieser absonderliche Kult an Symbolen zu bieten hat. Etliche fettleibige Riesinnen schwitzten in Hosen und Westen aus Leder mit aufgenähten Hakenkreuzen und Totenköpfen. Damen und Herren trugen Ringe oder Metalldornen durch Nase, Lippen, Ohren oder Brustwarzen. Weiter nach unten wagte ich nicht zu schauen. Über der Kühlerhaube eines Autos aus den sechziger Jahren lag eine barbusige junge Frau mit gefesselten Händen,der eine andere, als Vampir verkleidete Frau eine Reitgerte über Brust und Arme zog. Es war kein Spaß, die Gefesselte war übel zugerichtet, und ihre Schreie hallten durchs ganze Viertel. All das unter den amüsierten Blicken zweier Polizisten und etlicher fotografierender Touristen. Ich wollte einschreiten, aber Willie packte mich am Kragen, hob mich hoch und trug mich als strampelndes Etwas davon. Ein Stück weiter trafen wir auf einen dickbauchigen Koloß, der einen Zwerg an Halsband und Hundeleine führte. Wie sein Herrchen trug auch der Zwerg Springerstiefel und sonst nichts als ein nietenbesetztes Futteral aus schwarzem Leder um sein bestes Stück, gehalten von dünnen Riemchen, die in der

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