Das Siegel der Tage
Poritze verschwanden. Der Kleine kläffte uns an, aber der Koloß grüßte sehr freundlich und bot uns Lutscher in Penisform an. Willie blieb wie angewurzelt stehen, ließ mich los und schaute mit offenem Mund dem Paar hinterher. »Sollte ich je einen Roman schreiben, wird dieser Zwerg meine Hauptfigur«, sagte er unvermittelt.
Zu Beginn des Theaterstücks Paula standen die Schauspieler im Kreis, hielten sich an den Händen und beschworen deinen Geist, und als am Ende der Brief vorgelesen wurde, auf den du »Zu öffnen, falls ich sterben sollte« geschrieben hattest, konnte auch Willie die Tränen nicht mehr zurückhalten. Eine schwerelose, anmutige Tänzerin in einem weißen Nachthemd spielte die Titelrolle. Manchmal lag sie ausgestreckt auf einer Bahre, im Koma, dann wieder tanzte sie als Geist zwischen den anderen Schauspielern. Sie sprach erst ganz am Ende, als sie ihre Mutter bat, ihr das Sterben leichter zu machen. Vier Schauspielerinnen verkörperten verschiedene Stationen meines Lebens, vom Kind bis zur Großmutter, und reichten sich als Erkennungsmerkmal einen roten Seidenschal weiter. Ernesto und Willie wurden vom selben Schauspieler dargestellt, ein anderer spielte Onkel Ramón und entlockte dem Publikum ein Lachen, als er meiner Mutter seine Liebe erklärte und behauptete, indirekter Linie von Jesus Christus abzustammen, ja, sehen Sie doch nur das Mausoleum von Jesús Huidobro auf dem katholischen Friedhof von Santiago! Wir verließen schweigend das Theater in der Gewißheit, daß du weiter unter uns Lebenden gegenwärtig warst. Hast du dir je träumen lassen, einmal so viele Menschen zu berühren?
Am nächsten Tag gingen wir durch den Wald deiner Asche, um ein bißchen bei dir und Jennifer zu sein. Der Sommer war vorüber, der Boden von raschelndem Laub bedeckt, viele Bäume trugen die Farben des Reichtums, von dunklem Kupfer bis zu strahlendem Gold, und die Luft kündete schon vom bevorstehenden Regen. In der aus Bäumen geformten Kapelle setzten wir uns auf den Stamm eines Mammutbaums. Ein Eichhörnchenpaar spielte zu unseren Füßen mit einer Eichel, lugte ohne Scheu zu uns herauf. Ich konnte dich unversehrt sehen, ehe die Krankheit ihr Zerstörungswerk getan hat: mit drei Jahren singend und tanzend in Genf, mit fünfzehn bei der Verleihung irgendeiner Urkunde, mit sechsundzwanzig im Brautkleid. Die Pferde aus meinem Traum, die gestürzt und wieder aufgestanden waren, kamen mir in den Sinn, denn ich bin in meinem Leben viele Male gefallen und wieder aufgestanden, aber kein Sturz ist so hart gewesen wie dein Tod.
Eine denkwürdige Hochzeit
Im Januar 1999, zwei Jahre nach ihrer ersten gemeinsamen Nacht, gaben Nico und Lori sich das Jawort. Nico hatte Lori ein wenig drängen müssen, weil sie es nicht für notwendig hielt, aber er war der Meinung, die Kinder hätten zu viele unliebsame Überraschungen erlebt und würden sich sicherer fühlen, wenn sie beide verheiratet wären. Celia und Sally hatten sie von jeher zusammen gesehen und zweifelten nicht an ihrer Liebe, aber sie fürchteten wohl, Lori könne sich jeden Moment aus dem Staub machen. Nico hatte recht, niemand freute sich so sehr über diese Hochzeit wie die Kinder. »Jetzt gehört Lori noch mehr zu uns«, sagte Andrea zu mir. Angeblich braucht es acht Jahre, sich in die Rolle der Stiefmutter einzufinden, und am schwersten fällt es einer kinderlosen Frau, die sich einem Mann anschließt, der Vater ist. Für Lori war es nicht leicht, ihr Leben zu ändern und die Kinder anzunehmen, sie fühlte sich vereinnahmt. Dennoch lud sie sich auch die undankbaren Aufgaben auf, sei es Wäsche waschen oder Schuhe für Andrea kaufen, die ausschließlich grüne Plastiklatschen trug, aber keinesfalls beliebige Plastiklatschen, nein, sie mußten aus Taiwan sein. Lori ackerte, um die perfekte Mutter zu sein, ließ sich nicht den kleinsten Fehler durchgehen, dabei wäre soviel Eifer gar nicht nötig gewesen, denn die Kinder liebten sie für dieselben Dinge, für die wir alle sie liebten: für ihr Lachen, ihre Gutmütigkeit, ihre Neckereien, ihr Wuschelhaar, ihr großes Herz, und weil man mit ihr Pferde stehlen kann.
Geheiratet wurde in San Francisco: ein ausgelassenes Fest, das in einer allgemeinen Swing-Tanzstunde gipfelte, die einzige Gelegenheit, bei der Willie und ich wieder miteinander getanzt haben seit der demütigenden Erfahrung mit dieser skandinavischen Tanzlehrerin. Willie, imSmoking, sah haargenau aus wie Paul Newman in ich weiß nicht mehr welchem
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