Das Siegel der Tage
möglich bei ihnen leben und noch andere Menschen in dieses kleine Grüppchen aufnehmen wollte, um die große und unzertrennliche Familie zu bilden, von der ich immer geträumt hatte. Willie hielt das für eine romantische Träumerei, unmöglich in die Praxis umzusetzen, aber in unseren gemeinsamen Jahren ist ihm nicht nur klargeworden, daß diese Art des Zusammenlebens die auf der Erde am weitesten verbreitete ist, sondern er hat auch Gefallen daran gefunden. Die Sippe hat ihre Schattenseiten, aber auch sehr viele Vorteile. Sie ist mir tausendmal lieber als der amerikanische Traum von der völligen individuellen Freiheit, mit der man es in dieser Welt zwar vielleicht zu etwas bringt, aber um den Preis von Entfremdung und Einsamkeit. Deshalb und wegen allem,was wir mit ihr erlebt hatten, war es schwer für mich, Celia zu verlieren. Sicher, sie hatte uns allen weh getan, hatte die Familie, die wir so mühsam zusammengeführt hatten, völlig aus dem Gleis geworfen, aber mir fehlte sie trotzdem.
Nico versuchte Celia auf Abstand zu halten, und nicht allein, weil das zwischen Geschiedenen eben so ist, sondern auch, weil er spürte, daß sie sein Territorium besetzte. Ich war unfähig, das nachzuempfinden, dachte, ich müsse mich nicht zwischen den beiden entscheiden, meine Freundschaft mit Celia habe mit ihm nichts zu tun. Damit verweigerte ich ihm die vorbehaltlose Unterstützung, die ich ihm als Mutter schuldig gewesen wäre. Er fühlte sich von mir verraten, und heute kann ich mir vorstellen, wie sehr ihn das verletzt haben muß. Offen darüber reden, konnten wir nicht, weil ich der Wahrheit auswich und er dann schnell den Tränen nah war und ihm jedes Wort im Hals steckenblieb. Wir bedeuteten einander viel und wußten nicht, wie wir mit einer Situation umgehen sollten, in der wir uns zwangsläufig verletzten. Nico schrieb mir viele Briefe. Wenn er allein mit dem Papier war, gelang es ihm, sich auszudrücken, und ich konnte ihm zuhören. Wie sehr du uns damals gefehlt hast, Paula! Du hast es immer verstanden, für Klarheit zu sorgen. Zu guter Letzt beschlossen wir, gemeinsam zur Therapie zu gehen, wo wir reden und weinen, uns die Hand geben und einander verzeihen konnten.
Während dein Bruder und ich unserem Miteinander auf den Grund gingen, unserer Vergangenheit und unser beider Blick darauf nachspürten, suchte Lori ihn von den Verletzungen zu heilen, die er aus der Scheidung davongetragen hatte; er fühlte sich geliebt und begehrt, und das veränderte ihn. Die beiden unternahmen lange Wanderungen, besuchten Museen, gingen ins Theater und ins Kino, sie machte ihn mit ihren Freunden bekannt, fast ausnahmslos Künstlern, und weckte in ihm ein Interesse am Reisen, das sie selbst schon in sehr jungen Jahren besessen hatte. DenKindern schuf sie ein heiteres Zuhause, genau wie Sally in der anderen Wohnung. Andrea schrieb in einem Schulaufsatz: »Drei Mütter haben ist besser als eine.«
Im Verlauf von einem oder zwei Jahren brach Loris Geschäftsgrundlage weg. Die Kunden glaubten, der gestalterische Blick ließe sich durch ein Computerprogramm ersetzen, und Tausende Graphiker verloren ihre Arbeit. Lori gehörte zu den besten. Ihre Gestaltung meines Buchs Aphrodite war so gelungen, daß sie von Verlagen in über zwanzig Ländern übernommen wurde. Wegen der Ausstattung, nicht wegen des Inhalts erregte das Buch Aufmerksamkeit. Das Thema wurde eher belächelt, und außerdem war gerade ein neues Medikament auf den Markt gekommen, das endgültige Abhilfe bei männlichen Potenzproblemen versprach. Wozu mein albernes Handbuch studieren und im durchsichtigen Negligé Austern auftischen, wenn eine kleine blaue Pille dieselbe Wirkung tat? Der Tenor der Briefe, die mir einige Leser wegen Aphrodite schrieben, unterschied sich erheblich von dem der Zuschriften nach Paula . Ein siebenundsiebzigjähriger Gentleman lud mich zu Stunden höchster Lust mit ihm und seiner Sexsklavin ein, und ein junger Libanese schickte mir dreißig Seiten über die Vorzüge des Lebens im Harem. Und unterdessen wurde in den Vereinigten Staaten einzig und allein über die Affäre von Präsident Bill Clinton mit einer pummeligen Angestellten des Weißen Hauses geredet, ein Skandal, der die Erfolge seiner Regierung überschattete und die Demokraten später die Wiederwahl kosten sollte. Die Flecken auf einem Kleid und einem Höschen waren für die amerikanische Politik am Ende wichtiger als die bemerkenswert guten Wirtschaftsdaten und die Innen- und
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