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Das Siegel der Tage

Das Siegel der Tage

Titel: Das Siegel der Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Allende
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müssen ihre Kinder nicht verhungern, und wenn es den Familien bessergeht, profitiert die Dorfgemeinschaft, aber diese so offensichtliche Erkenntnis wird bei aller Menschenliebe ignoriert, denn für jeden Dollar, der in Frauenförderung fließt, gehen zwanzig Dollar an Männer.
    Ich erzählte Lori von der Frau, die ich mit einer Mülltüte zugedeckt auf der Fifth Avenue hatte weinen sehen, und von Tabras jüngsten Erlebnissen in Bangladesh, wo meine Stiftung mehrere Schulen für Mädchen in abgelegenen Dörfern unterhielt und eine kleine Krankenstation für Frauen. Tabra war mit einer befreundeten Zahnarzthelferin hingefahren, die für zwei Wochen in der Station hatte arbeiten wollen. Sie hatten Koffer voller Medikamente, Spritzen, Zahnbürsten und andere Spenden dabei, die sie von befreundeten Zahnärzten gesammelt hatten. Kaum im Dorf angekommen, sahen sie, daß sich schon eine Warteschlange vor der Krankenstation gebildet hatte, die ein stickiges, von Moskitos heimgesuchtes Gebäude war, in dem es kaum mehr als die nackten Wände gab. Die erste Patientin hatte mehrere faule Backenzähne und war wegen der monatelangen Schmerzen nahe daran, den Verstand zu verlieren. Tabra betätigte sich als Helferin, während ihre Freundin, die noch nie einen Zahn gezogen hatte, der Frau mit flatterndem Puls und weichen Knien die Betäubungsspritzen setzte und die faulen Backenzähne zog. Als sie fertig war, küßte die Patientin ihr vor Erleichterung und Dankbarkeit die Hände. An diesem ersten Tag behandelten sie fünfzehn Patientinnen,zogen neun Backen- und etliche Schneidezähne, alles unter den Blicken der Männer des Dorfes, die sie umringten und ihren Senf dazu gaben. Am nächsten Morgen kamen Tabra und die Zahnarzthelferin früh in die Krankenstation und trafen dort ihre erste Patientin vom Vortag, deren Gesicht auf die Größe einer Wassermelone angeschwollen war. Ihr Ehemann war bei ihr und schrie herum, man habe ihm die Ehefrau ruiniert, und schon liefen die Männer des Dorfes zusammen und forderten Rache. Zu Tode erschrocken gab die Zahnarzthelferin der Frau Antibiotika und Schmerzmittel und flehte zu Gott, daß ihre Patientin durchkommen möge. »Was habe ich bloß getan? Sie ist völlig entstellt!« jammerte sie, als das Ehepaar gegangen war. »Aber nicht von der Operation. Ihr Mann hat sie gestern abend windelweich geprügelt, weil sie nicht rechtzeitig zu Hause war, um für ihn zu kochen«, erklärte der Dolmetscher.
    »So ergeht es den meisten Frauen, Lori. Sie sind immer die Ärmsten der Armen; sie erledigen zwei Drittel der Arbeit auf der Welt, besitzen aber weniger als ein Prozent des Vermögens«, sagte ich.
    Bis dahin hatte die Stiftung das Geld relativ spontan verteilt oder dem Druck der guten Sache nachgegeben, aber dank Lori legten wir jetzt Prioritäten fest: Bildung, weil sie in jeder Hinsicht der erste Schritt zur Unabhängigkeit ist, Schutz, weil viele Frauen aus Angst nicht frei handeln können, und Gesundheit, ohne die das Vorherige wenig nutzt. Ich nahm noch Geburtenkontrolle in die Liste auf, die für mich entscheidend gewesen ist, denn hätte etwas so Grundlegendes wie die Zahl meiner Kinder nicht in meiner Macht gestanden, ich hätte nichts von dem tun können, was ich getan habe. Zum Glück wurde die Pille erfunden, sonst hätte ich ein Dutzend Kinder bekommen.
    Lori begeisterte sich für die Stiftung, und bald zeigte sich, daß sie für diese Aufgabe wie geschaffen ist. Sie besitzt den nötigen Idealismus, ist vorausschauend und gewissenhaftund scheut keine Mühe, die in diesem Fall groß ist. Durch sie wurde mir klar, daß es nichts bringt, Geld hierhin und dorthin zu geben, die Ergebnisse müssen überprüft und Projekte auf Jahre hinaus unterstützt werden – nur so ist die Hilfe wirklich nützlich. Außerdem mußten wir uns beschränken, konnte es nicht darum gehen, in abgelegenen Gegenden ohne jede Kontrollmöglichkeit Heftpflaster zu verteilen oder uns mehr aufzuladen, als wir bewältigen konnten: Besser wir gaben mehr Geld an weniger Organisationen. Innerhalb eines Jahres strukturierte Lori die Stiftung um, und ich konnte alles an sie delegieren; sie bittet mich nur, die Schecks zu unterschreiben. Sie leistet hervorragende Arbeit, hat damit nicht nur die Mittel, die wir vergeben, sondern auch unser Stiftungskapital vervielfacht, und verwaltet heute mehr Geld, als wir uns je hätten träumen lassen. Alles wird für unsere Vorhaben verwendet, und damit setzen wir deinen Plan in die Tat

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