Das Siegel der Tage
Aufgabe auf Erden ist erledigt: Mein Sohn ist unter der Haube.«
»Glaub das bloß nicht, jetzt werden die beiden dich erst recht brauchen«, sagte er.
Als der Abend ausklang und die Gäste sich verabschiedeten, krabbelte ich unter einen Tisch, dessen Decke bis zum Boden hing, und hinter mir her krabbelten ein gutes Dutzend Kinder, die berauscht waren von all den Süßigkeiten, aufgedreht von der Musik und zerzaust wie Vogelscheuchen vom vielen Herumbalgen. Unter ihnen hatte sich herumgesprochen, ich würde alle Geschichten der Welt kennen, man bräuchte mich nur zu fragen. Sabrina wollte eine Geschichte mit einer Seejungfrau hören. Also erzählte ich ihnen von dieser klitzekleinen Seejungfrau, die in ein Whiskyglas gefallen und von Willie versehentlich verschluckt worden war. Die Beschreibung der Reise dieser armen Kreatur durch die Innereien des Großvaters, ihrer Seefahrt durch die Gedärme, in denen alle Arten von Hindernissen und ekligen Gefahren lauerten und es unzählige Abenteuer zu bestehen galt, bis die Seejungfrau in den Urin geriet, von dort weiter in die Kanalisation und schließlich in die Bucht von SanFrancisco, machte die Kinder stumm vor Staunen. Am Tag darauf kam Nicole mit schlaftrunkenen Augen zu mir und meinte, die Geschichte von dieser kleinen Seejungfrau habe ihr kein bißchen gefallen.
»Ist das eine wahre Geschichte?« wollte sie wissen.
»Nicht alles daran ist wahr, aber unwahr ist auch nicht alles.«
»Wieviel ist unwahr und wieviel wahr?«
»Da bin ich überfragt, Nicole. Der Kern der Geschichte ist wahr, und bei meiner Arbeit als Geschichtenerzählerin kommt es nur darauf an.«
»Seejungfrauen gibt es nicht, also stimmt gar nichts an deiner Geschichte.«
»Und woher willst du wissen, daß diese Seejungfrau nicht vielleicht eine Bakterie war? Zum Beispiel?«
»Eine Seejungfrau ist eine Seejungfrau und eine Bakterie eine Bakterie«, schnaubte sie.
Hinter der Liebe her nach China
Tong nahm zum erstenmal in den dreißig Jahren, die er als Buchhalter für Willie arbeitete, eine private Einladung an. Wir hatten uns längst damit abgefunden, ihn nicht mehr zu uns zu bitten, weil er doch nie erschien, aber die Hochzeit von Nico und Lori war selbst für den menschenscheuen Tong ein bedeutendes Ereignis. »Muß man hingehen?« fragte er Lori, und die antwortete mit ja, was sich bisher nie jemand getraut hatte. Er kam allein, weil ihn seine Frau endlich, nachdem sie Jahre im selben Bett geschlafen und nie ein Wort miteinander gewechselt hatten, um die Scheidung gebeten hatte. Beflügelt von meinem Erfolg mit Nico und Lori, dachte ich, auch eine Frau für Tong finden zu können, aber er ließ mich wissen, daß er eine Chinesin wolle, und in deren Community fehlt es mir an Kontakten. In San Francisco stand ihm allerdings das größte und berühmteste chinesischen Viertel der westlichen Welt zur Verfügung; als ich jedoch fallenließ, dort werde er sicher fündig, erklärte er mir, er wolle eine Frau, die nicht von Amerika verunreinigt sei. Ihm schwebte eine unterwürfige, stets zu Boden starrende Gattin vor, die ihm seine Leibspeisen kochte, ihm die Nägel schnitt, ihm einen männlichen Nachkommen schenkte und nebenbei der Schwiegermutter als Haussklavin diente. Wer ihm diesen Floh ins Ohr gesetzt hatte, weiß ich nicht, habe allerdings seine Mutter im Verdacht, diese winzige Greisin, vor der wir alle zitterten. »Und Sie glauben, Tong, daß es solche Frauen auf der Welt noch gibt?« fragte ich ihn fassungslos. Statt mir zu antworten, führte er mich zu seinem Computerbildschirm und zeigte mir eine endlose Liste von Fotos und Beschreibungen von Frauen, die bereit waren, einen Unbekannten zu heiraten, um ihrem Land oder ihrer Familie zu entfliehen. Sortiert warensie nach Hautfarbe, Nationalität, Religion und, für den anspruchsvolleren Kunden, nach Körbchengröße. Hätte ich früher von diesem Selbstbedienungsladen weiblicher Reize gewußt, ich hätte mir um Nico nicht so viele Sorgen gemacht. Obwohl, wenn ich es recht bedenke, war es besser gewesen, nichts davon zu wissen; Lori hätte ich in einer solchen Liste nie gefunden.
Tongs Zukünftige wurde zu einem langwierigen und komplizierten Büroprojekt. Wir teilten uns damals einträchtig das Bordell von Sausalito: Willies Kanzlei im Erdgeschoß, mein Büro im ersten Stock und Lori mit der Stiftung im zweiten. Loris Sinn für Eleganz hatte auch diesem alten Haus gutgetan, sie hatte die Plakate meiner Bücher rahmen lassen, Teppiche aus
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