Das Siegel des Templers: Roman (German Edition)
im Osten Kastiliens geschickt worden. Nun müsse er noch zur Festung Olmillos, ehe er zur Burg zurückkehren könne.
Juliana hörte zu, sagte jedoch nichts. Sie konnte an nichts anderes denken, als dass er vergeblich auf die Rückkehr seines Bruders warten würde. Wann würde er es erfahren? Offensichtlich war er dem Vater nicht begegnet. Wie wäre dieses Treffen verlaufen? Wie hätte der Vater reagiert, so unerwartet den Bruder des Toten vor sich zu sehen, der ihm so unglaublich ähnlich sah? Hätte er, wie sie, geglaubt, seinen Geist vor sich zu haben?
Ein anderer Gedanke kam ihr in den Sinn. War es etwa gar kein Zufall, dass der Bruder des Toten hier an der Straße nach Sankt Jakob zu finden war? Hatten der Vater und der Dekan davon gewusst und seine Sühnereise absichtlich auf diesen Pfad gelenkt? Warum? Wollte er dem Bruder des Ermordeten seine Tat gestehen und um Vergebung bitten? – Oder plante er gar noch mehr Böses gegen die Familie von Burg Streichenberg? Schwebte der Templer Sebastian etwa in Gefahr?
Nein, das konnte sich Juliana nicht vorstellen. So etwas würde ihr Vater nicht tun. Es gäbe nichts, das ihn zu solch einer
Tat verleiten könnte. – Oder vielleicht doch? Was hatte ihn dazu gebracht, Swicker zu erstechen?
Juliana grübelte noch über die Begegnung nach, als sie eine gute Wegstunde später Carionne 23 erreichten. Es war die größte Stadt hier in der Tierra de los Campos, und sie passierten eine ganze Anzahl an Pilgerunterkünften und Spitälern. Das Kloster der heiligen Clara sah noch recht neu aus. Man sagte, der heilige Franz von Assisi selbst habe es auf seiner Pilgerreise nach Santiago gegründet. Am prächtigsten jedoch erhob sich das Kloster San Zoilo, das die Gebeine des Heiligen aufbewahrte, die Graf Gome Diaz einst aus Córdoba hatte herbringen lassen. Kluniazensermönche wachten über den Schatz, dessen Ruhm mit jedem Jahrzehnt mehr verblasste. Schon lange hatte das Kloster von Sahagún San Zoilo an Macht und Einfluss überflügelt.
»Wollen wir uns nicht ein Lager suchen?«, schlug Bruder Rupert vor und betrachtete die altehrwürdigen Mauern des Klosters.
Obwohl ihr Knöchel nun wieder schmerzte, schüttelte Juliana nachdrücklich den Kopf. Der Drang, den Vater einzuholen, war stärker als ihr geschundener Körper. »Es ist noch viele Stunden Tag! Wir können weitergehen.«
»So viele Stunden auch wieder nicht«, meinte Bruder Rupert, widersprach jedoch nicht weiter, sondern schritt auf die Brücke über den Carrión zu.
Schon eine Stunde später bereute das Mädchen seinen Entschluss, doch nun mussten sie weiter, wollten sie nicht wieder am ungeschützten Feldrand die Nacht zubringen. Ohne einmal innezuhalten, tappte der Augustiner in seinen Sandalen auf der alten Römerstraße voran, während die Sonne vor ihnen über den Feldern verglühte.
Die ersten Sterne standen schon am Himmel, als Pater Bertran an die Tore eines Hauses klopfte. Ritter des spanischen Santiagoordens ließen sie ein und bewirteten sie vorzüglich. Sie setzten sich zu ihnen an den Tisch und erzählten, bis das Mädchen vornübersank und mit dem Kopf auf den verschränkten Armen einschlief. Sie merkte nur halb im Traum, wie Bruder Rupert sie hochhob und in den Nebenraum trug, wo sie in einem weichen Bett bis zum Morgen schlief.
34
Ein Besuch auf Guttenberg
Burg Guttenberg im Jahre des Herrn 1307
E s ist die Stunde, in der der neue Tag anbricht und die Nacht sich vom ersten Licht des Morgens verdrängen lässt. Juliana liegt unter der wärmenden Federdecke in ihrem Bett, noch halb in wohligen Träumen gefangen. Doch mit dem Licht und den Geräuschen des Tages kehren auch die Erinnerungen zurück. Kein Kinderlachen wird durch die Burg tönen. Keine kleinen Füße über die Binsen rascheln. Kein kleiner Körper auf ihr Bett krabbeln, um die ältere Schwester zu wecken.
Mit jedem Tag, der nun verstreicht, sieht sie den Bruder in hellerem Licht. Die vielen Streitereien und die Eifersucht verblassen, das nagende Gefühl von Schuld aber bleibt. Warum musste er sterben? Die Mutter hat inzwischen zwar begonnen, ihre Aufgaben als Burgherrin wieder wahrzunehmen, aber Juliana weiß, dass die Trauer um ihren Sohn nicht kleiner geworden ist. Die Edelfrau versteht es nur besser, den Schmerz in sich einzuschließen und vor den anderen zu verbergen.
War es wirklich Gottes Wille, den Knaben zu sich zu nehmen? Juliana wälzt sich in ihrem Bett hin und her. Die Worte des Kochendorfers brennen in ihren
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