Das Siegel des Templers: Roman (German Edition)
Das durfte sie nicht zulassen. Sie musste ihn aufhalten. Das Mädchen mochte ihn, er war ihre Stütze zwischen den anderen Männern, die ihr stets ein Rätsel blieben. Aber ihr Mund blieb stumm, und sie rührte sich nicht. Wie konnte sie ihn zurückhalten und ihn in diese Seelennot stürzen? Ihn weiter mit der Vorstellung quälen, er habe krankhaft unnatürliche Triebe? Aber die Wahrheit durfte sie ihm auch nicht sagen, um ihn von seiner Qual zu befreien. Selbst wenn er ihr versprach, ihr Geheimnis zu wahren, würde er sich erst recht zu ihr hingezogen fühlen. Hatte er nicht gesagt, es dränge ihn, sie zu berühren? Sie konnte, wollte und durfte ihm das nicht gestatten – egal ob als Mann oder Mädchen. Nein, so sehr es sie schmerzte, es war besser, wenn er ging. Eine Träne rann aus ihrem Augenwinkel und tropfte in den Sand. Sie würde ihn nicht wiedersehen.
Tiefe Traurigkeit drückte ihre Seele nieder, als sie am Morgen erwachte. Sie gab sich nicht überrascht, André nicht mehr vorzufinden. Sie sagte gar nichts. Stumm packte sie ihr Bündel und stemmte sich hoch. Der Knöchel schmerzte zwar noch, aber – mit dem Stab in der Hand – würde es schon gehen.
»Wo ist dieser Nichtsnutz?«, schimpfte Pater Bertran. »Wir werden nicht auf ihn warten. Dann kann er sehen, wie er zurechtkommt.«
»Das wird er«, antwortete der Bettelmönch, sah aber nicht den Pater, sondern das Mädchen an. »Er hat sich entschlossen, noch heute Nacht weiterzuwandern.«
Juliana starrte nur vor sich hin und hinkte zum Weg zurück. Ein schrecklicher Tag lag vor ihr. Nicht nur, dass ihr Knöchel noch schmerzte, auch war das übliche Unwohlsein der Weiber noch nicht überwunden. Vor allem jedoch fühlte sie sich einsam. Erst jetzt merkte sie, wie sehr der junge Ritter ihr ans Herz gewachsen war. Sicher waren seine Launen manches Mal anstrengend oder lästig gewesen, sein oft so abrupter Wechsel zwischen überschäumender Freude und tiefer Verzweiflung – und dann seine fast kindliche Verehrung der Tempelritter und allem, was durch ihre Hand geschaffen worden war. Und dennoch war sie sich immer sicher gewesen, dass er es gut mit ihr meinte. Nun hatte sie den Freund verloren und musste mit den beiden Mönchen weiterwandern, über deren Motive sie sich alles andere als sicher war. Sie zürnte Pater Bertran, dass er André mit seinen Drohungen weggetrieben hatte, und sie misstraute Bruder Rupert mehr denn je.
So wanderten sie stumm durch Castroxeris, das sich in Form eines S am südlichen Hang des Burgberges mit seiner imposanten Festung entlangzog. Sie zogen an der Kirche am Stadteingang und den anderen drei Kirchen des sich erstaunlich lang hinziehenden Städtchens vorbei, dann schritten sie wieder allein über Land, die Hügel hinauf und hinunter, wateten durch Bäche oder überquerten Flüsse auf steinernen Bogenbrücken. Die meiste Zeit jedoch gingen sie über die heiße, staubige Ebene,
über der die Sonne die Luft zum Flimmern brachte. Einzig die zahlreichen Taubenhäuser und ab und zu eine Steineiche boten dem Auge Abwechslung.
Am Nachmittag wanderten sie über das völlig ebene Land voller Felder und Weiden an einem Fluss entlang, bis sie am Abend Formesta 22 erreichten. Pater Bertran wollte die Klosterkirche des San Martín de Tours besuchen, um dort zu beten, wogegen Juliana sich nur noch nach Dunkelheit und einem Lager sehnte. Ihr Knöchel peinigte sie. Während der Pater sich zu den Clunymönchen aufmachte, die hier ein Priorat von San Zoilo de Carrión unterhielten, gingen das Mädchen und Bruder Rupert zur Herberge von San Lazaro, die in einem eigens ummauerten Bereich vor der Stadt lag. Zwar waren die aus Holz und Lehm gefertigten Hütten der gesunden Pilger streng von denen, in denen Kranke und Aussätzige untergebracht waren, getrennt, dennoch war es Julianna nicht wohl bei dem Gedanken, den Entstellten so nahe zu sein. Sie warf kurz einen Blick in die Kapelle, um die sich die Hütten scharten, zog sich dann jedoch auf den Strohsack zurück, den einer der Brüder ihr angewiesen hatte.
Der nächste Tag brachte weder kühleres Wetter, noch hob sich die Stimmung der drei Pilgerreisenden. Juliana hatte das Gefühl, ihr Gewand schlottere nur noch an ihr herab. Wenn sie noch länger der Sonne und dem glühenden Wind ausgesetzt wäre, würde sie bald so vertrocknet aussehen wie der Pater. Die Haut ihres Gesichts und der Hände hatten die Farbe und die Struktur gegerbten Leders angenommen. Zum Glück lag die Zeit
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