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Das Siegel des Templers: Roman (German Edition)

Das Siegel des Templers: Roman (German Edition)

Titel: Das Siegel des Templers: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Schweikert
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Seit Tagen ließ sich Juliana zum ersten Mal aus ihrer Lethargie reißen.
    Es war ihr, als würden all ihre Kräfte und Sinne nur noch dazu gebraucht, ihre Füße vorwärts zu bewegen. Um zu sehen, zu hören, zu riechen und zu schmecken, blieb nichts mehr von ihr übrig. Sie wusste nicht mehr, wie die Städte und Dörfer ausgesehen hatten, an denen sie vorbeigekommen waren, sie konnte sich an keine Kirche und kein Spital mehr erinnern. Sie wusste nicht mehr, ob und wie lange sie geschlafen und was
sie gegessen hatte. In ihrem Geist ging sie immer nur voran und hörte das Geräusch ihrer eigenen Schritte. Nur der Wind, der heiß um ihren Körper wehte, war ihr eindringlich bewusst.
    Und nun stand sie auf dem Platz vor der Kathedrale und sah zu dem regenschweren Himmel empor. Noch einmal zerriss die Abendsonne die Wolkendecke und hüllte das Gotteshaus in einen Schein, als würden die Engel selbst die Strahlen der Sonne lenken. Das Mädchen ließ sich mit dem Strom aus Bürgern und Pilgern zur Abendmesse in die Kirche ziehen. Ihr Blick streifte über die bunten Glasscheiben, ihr Geist versuchte, die dargestellten Personen und Geschichten zu erkennen.
    »Herr Jesus Christ, heilige Jungfrau Maria«, betete sie plötzlich. »Heiliger Jakobus und all Ihr anderen Heiligen an meinem Weg, seht gnädig auf mich herab. Ich habe alles versucht, meinem Körper abverlangt, was er geben konnte und noch ein bisschen mehr, doch ich sehe in diesem Augenblick: Ich kann es nicht schaffen. Wer bin ich, dass ich mir eingebildet habe, allein zurechtzukommen? Welcher Hochmut, dass ich meinte, auf göttliche Hilfe verzichten zu können.« Tränen rannen über ihre Wangen, während die Worte in ihrem Kopf widerklangen. »Ich höre die Dämonen ihren Spott mit mir treiben. Sie lachen mich aus und narren meine Sinne. Töricht und blind bin ich durch das Land gehastet und habe geglaubt, mein Wille allein würde genügen, mich an mein Ziel zu führen. Nun seht Ihr mich zerschlagen vor Euch knien und Euch um Hilfe anflehen. Gewährt mir die Gnade, mein Ziel zu erreichen – schnell, o bitte schnell. Ich verspreche, ich werde nach Sankt Jakob ziehen und eine Nacht an seinem Grab beten, doch bitte, lasst mich nicht länger verzweifeln. Gebt mir meinen Vater wieder.«

    In der Nacht träumte sie von ihm. Er trat in den Schlafsaal und nahm sie in die Arme. Mit einem Schluchzen warf sie sich an
seine Brust. Er strich über ihren Rücken und tröstete sie, sein Blick jedoch war vorwurfsvoll.
    »Warum zweifelst du an mir, meine Tochter? Wie kannst du nur solch schändliche Dinge von mir denken?«
    »Ich habe es gesehen!«, rief sie.
    »Was hast du gesehen?«, fragte er.
    »Das Blut des Templers an Euren Händen!«
    Der Vater nickte. »Ja, so ist es immer. Wir sehen nur einen Teil und denken, es ist die ganze Wahrheit. Wir wissen nicht, und dennoch verurteilen wir und brechen den Stab.«
    »Ich verurteile nicht!«, empörte sich das Mädchen. »Ich bin gekommen, um Antworten zu erhalten.«
    »Wirklich?« Er ließ sie los, seine Gestalt verblasste.
    »Bleibt hier! Vater, bleibt bei mir!«
    Sie erwachte. Ein Streifen Mondlicht fiel über die nebeneinander aufgereihten Lager. Trotz der offenen Fensterschlitze war der Gestank, der den vielen, ungewaschenen Leibern entströmte, betäubend, und ein vielstimmiges Schnauben, Schmatzen und Schnarchen erfüllte den Raum. Juliana presste sich die Handflächen gegen die Ohren, aber der Schlaf wollte nicht zurückkehren. Es war ihr, als müsse sie hier drinnen ersticken. Nach einer Weile gab sie es auf, zog sich leise an und tastete sich zur Tür hinüber.
    Die Nachtluft war kalt, ein frischer Wind wehte und trieb ab und zu die modrigen Schwaden der Stadt bis über die Klostermauern von San Marcos hinweg, das sich außerhalb der Stadtmauern am Ufer des Río Bernesga erhob. Das Spital war eine mächtige Anlage unter der Fürsorge der Ritter des Jakobsordens. Juliana saß in ihren Mantel gehüllt auf einer Bank im Hof und beobachtete den Himmel, der sich von Osten her erhellte. Eine Glocke begann zart zu klingen, eine zweite fiel ein und läutete die Stunde der Laudes ein – des Stundengebets vor dem Aufgang der Sonne. Nun würden sich die Pilger bald erheben, um weiter nach Westen zu ziehen.
    Juliana, Bruder Rupert und Pater Bertran verließen das
Spital San Marcos mit einer Gruppe anderer Pilger, die für die nächsten beiden Tage ihren Weg teilen sollten. Sie waren zu sechst: zwei Gerber, Vater und Sohn aus

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