Das Siegel des Templers: Roman (German Edition)
Tage in Wimpfen war, sind mir zwei Pilger begegnet, die auf der Straße nach Sankt Jakob unterwegs sind.«
»Und?«, erwidert Juliana schnippisch und dreht ihm den Rücken zu. Sie lehnt sich gegen die Brüstung und lässt ihr Gesicht vom Wind kühlen, der hier oben frischer ist als unten im Burghof. Unten auf dem Neckar zieht ein langes, schmales Boot vorbei, das mit Säcken beladen ist. Wolf beachtet sie nicht und wendet sich stattdessen an den Türmer, der seine Geschichte hören möchte.
»Bis nach Lucca und Rom sind sie schon gegangen – sie haben mir die metallenen Zeichen an ihren Mänteln gezeigt, die sie dort gekauft haben – und nun wollen sie über die Pyrenäen nach Kastilien ziehen, um am Grab von Santiago zu beten.«
Juliana möchte gern wissen, wer dieser Santiago ist, doch damit würde sie Wolf zeigen, dass sie sich für seine Geschichte interessiert. Nein, sie muss ihn noch ein wenig mit Verachtung strafen. Dennoch hört sie gespannt zu.
»Sie waren zu dritt, drei Brüder, doch vor einer Woche ist der älteste erkrankt. Er bekam Fieber und hustete Blut. Es war schon recht schlimm um ihn bestellt, als die drei am Sonntag Wimpfen erreichten. Die Dominikaner haben die Pilger aufgenommen und sich um den Kranken gekümmert, aber es war zu spät. Vor zwei Tagen ist er gestorben, und die Mönche haben ihn gleich unten im Kirchhof an der Mauer beerdigt.«
»Wie schrecklich!«, entfährt es Juliana.
»Warum?«, will der Türmer wissen. »Jeder muss einmal sterben. Wenn er in Rom und Lucca Ablass erhalten, und seitdem nicht mehr viele Sünden auf sich geladen hat, dann ist seine Zeit im Fegefeuer nur kurz bemessen. Das ist doch gut. Außerdem haben die Dominikaner ihn sicher nicht ohne Beichte und letzte Ölung sterben lassen.«
Da das Mädchen nun nicht mehr vorgeben kann, nur die Landschaft zu betrachten, dreht sie sich zu ihrem Freund und dem Türmer um.
»Nein, das meine ich nicht. Noch zu Großvaters Zeiten stand dort auf dem Hügel vor der Stadt der Galgen! Dort starben die Ehrlosen und die Mörder und wurden im Schatten des Hochgerichts vergraben. Ist es nicht noch immer die gleiche Erde?« Ein Schauder durchläuft sie.
Samuel zuckt mit den Schultern. »Hm, ja, ich kenne mich mit solchen Dingen nicht aus, aber ich denke, nachdem der Galgen verlegt worden ist und der alte Engelhard von Weinsberg den Hügel an die Dominikaner verschenkt hat, zählt das nicht mehr. Nun stehen dort eine Kirche und ein Kloster, und die Bettelmönche leben und beten dort. Sicher haben sie die Erde von der Schande gereinigt und gesegnet… Nein, ich denke, der Pilger hat es gut getroffen.«
»Jedenfalls wollen die anderen beiden nun weiter nach Santiago
ziehen«, unterbricht ihn Wolf ungeduldig, der endlich mit seiner Geschichte fortfahren will. »Gleich wenn der König und sein Gefolge wieder abgereist sind, wandern sie weiter, nach Heilbronn, zum Kloster Maulbronn und nach St. Peter im Schwarzwald, nach Freiburg und dann über den Rhein hinüber in die freie Reichsstadt Colmar.« Er geht in die Hocke und malt mit dem Zeigefinger die Route auf den staubigen Boden. »Weiter nach Westen bis nach Burgund und dann die Rhône entlang zum berühmten Kloster Cluny …«
»Wen interessiert das?«, äfft seine Freundin Wolfs Worte nach. »Ich weiß nicht, wo all diese Orte liegen. Was schert es mich, ob diese fremden Männer eine Woche oder zwei wandern müssen, um zu diesem Santiago zu kommen, von dem ich auch noch nie gehört habe.«
»Ein oder zwei Wochen?«, Wolf lacht. Er erhebt sich und wischt sich die staubigen Hände an seiner Cotte ab. »Die Pilger werden mehr als vier Monate unterwegs sein, bis sie die Stadt Santiago oder San Jacobo in Chompostella erreichen.«
»Mehr als vier Monate? Und die ganze Zeit wandern sie immer zu Fuß?« Wider Willen ist das Mädchen beeindruckt. Sie steigt hinter Wolf im düsteren Bergfried die Treppe hinunter und versucht sich vorzustellen, wie das ist, die Familie zu verlassen, um dann Tag um Tag, Woche um Woche über die staubige Landstraße zu wandern, nur um in einer fernen Stadt – ja, was eigentlich zu tun?
»Was machen die in Santiago, wenn die dort ankommen?«, erkundigt sich Juliana, als sie hinter Wolf ins grelle Sonnenlicht des Hofes tritt.
»Sie beten natürlich, was denn sonst? Sie gehen in die große Kathedrale, halten Nachtwache und erflehen die Vergebung ihrer Sünden. Sie sehen sich das Grab von Santiago an, der dort begraben ist. Santiago – so nennen die
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