Das Siegel des Templers: Roman (German Edition)
und er hat ihr bisher gute Dienste geleistet.
»Empfange diesen Stab als Stütze für deine Reise und die Mühsale deiner Pilgerschaft«, sagte der Bischof mit weicher Stimme und legte seine Fingerspitzen auf das glatte Holz. »Auf dass du alle bösen Feinde besiegen kannst und sicher zum Grabe des heiligen Jacobus gelangst. Und auf dass du nach Vollendung deiner Reise freudvoll zu uns zurückkehrst, nach dem Willen dessen, der als Gott lebt und regiert in alle Ewigkeit. Amen.«
Es waren mehr als zwei Dutzend Pilger, die in Hut und Mantel aus der Kirche traten und sich auf die Straße nach Sankt Jakob begaben. Sie wanderten in kleinen Gruppen – mal blieb einer zurück, mal kamen andere hinzu. Es gab verschiedene Wege durch Burgund und Frankreich und auch zwei Routen über die Pyrenäen. So verlor man sich und traf einander zufällig wieder – nur Bruder Rupert klebte von nun an an ihr und folgte ihr wie ein Schatten. Erst fiel es Juliana nicht auf, doch dann fühlte sie immer öfter seinen Blick in ihrem Rücken. Wenn sie herumfuhr, stand er meist keine zehn Schritte von ihr entfernt und senkte nur zögernd die Lider. Auch kam es ihr so vor, als lausche er aufmerksam ihren Worten, wenn sie mit anderen Mitreisenden sprach, obwohl er sich den Anschein gab, als wäre er mit seinem Bündel, seinen Schuhen oder einem kargen Mahl beschäftigt.
Wer war er, und warum interessierte er sich für sie? Als sie das Tal der Rhône hinter sich ließen und nach Westen wanderten, begann Juliana, ihn zu beobachten. Er war vielleicht so alt wie ihr Vater, um die vierzig Jahre, sein kurzes Haar war von
dunklem Braun, die Augenbrauen breit und dicht. Vielleicht lag es an ihnen, dass sein Gesicht stets abweisend wirkte, oder an dem verfilzten Bart, den er nur ab und zu sehr nachlässig schnitt? Vielleicht war es auch die Narbe an seinem Hals, eine helle Linie, die den Eindruck heraufbeschwor, jemand habe versucht, dem Bettelmönch die Kehle durchzuschneiden. Als Juliana ihn eines Tages bei einem Bad in einem Tümpel überraschte, sah sie, dass er am Oberschenkel durch eine weitere Narbe entstellt war. Wie ein Blitz, gezackt und zerfasert, zog sie sich bis zum Knie hinab.
Welch muskulöse Arme und Beine er hatte, kam es ihr in den Sinn. Ungewöhnlich für einen Ordensbruder. Woher er wohl kam? Er sprach Deutsch, als sei es seine Muttersprache. Vieles klang, wie die Menschen am Zusammenfluss von Neckar, Kocher und Jagst sprachen, anderes eher fremd in ihren Ohren. Aber da war etwas in der Art, viele Worte auszusprechen, die sie an jemanden erinnerte, doch sie konnte nicht sagen an wen. Ihre Versuche, ihn auszuhorchen, schlugen kläglich fehl. Er war wortkarg und meist mürrisch und antwortete nur, wenn es ihm gefiel.
In der Nähe von Toulouse kam Juliana zum ersten Mal der Gedanke, ihr Zusammentreffen in Freiburg könnte etwas anderes gewesen sein als ein Zufall. War er mit Absicht gegen sie gestoßen, um ein Gespräch mit ihr zu beginnen? Aber warum? Diese Frage quälte sie, ohne dass sie eine Antwort finden konnte, und ihr Unbehagen in seiner Gesellschaft wuchs mit jedem Tag, bis sie es am Fuß der Pyrenäen endlich schaffte, sich seiner zu entledigen.
Das Mädchen hielt vor einem Hügel inne und sah den steilen Anstieg hinauf. Sie nahm ihren Rucksack und die Pilgertasche von den Schultern, zog ihren Umhang aus und band ihn auf ihr Bündel.
Warum verdarb sie sich diesen Sommertag mit Gedanken an den düsteren Mönch? Er war weg, weit hinter ihr, und sie würde ihn – so Gott wollte – nie wieder sehen!
Raschen Schrittes überquerte sie den Hügel und ging durch
das nächste Dorf. Die Häuser glichen einander und schienen noch nicht sehr alt zu sein. Anders als in anderen Orten sah man hier keine Ruinen zwischen den bewohnten Häusern und keine verfallen Scheunen. Ja, es gab nicht einmal von Fäule geschwärzte, durchhängende Strohdächer. Hinter dem letzten Hof wand sich der Pfad zwischen Buchen und Kiefern zu einem bewaldeten Höhenzug empor.
Thomas kam ihr wieder in den Sinn und seine Reden von den Pilgern. Anscheinend verehrte er den Apostel Jakobus, obwohl er seine Reise vor langer Zeit abgebrochen hatte. Auf alle Fälle war er einst losmarschiert, um an seinem Grab zu beten. Wenn Juliana an den Apostel dachte, dann erfüllten sie keine guten Gefühle, und sie verspürte auch nicht den Wunsch zu beten. Zorn wallte jedes Mal in ihr auf, wenn ihre Gedanken Santiago streiften. Der heilige Jakobus hatte ihr zwei der
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