Das Siegel des Templers: Roman (German Edition)
auf. »Er hat es versprochen!« Tränen füllen ihre Augen und rinnen die Wangen hinab. Hastig wendet sie sich ab und eilt ohne einen Abschiedsgruß in den Hof hinunter.
Julianas Besuche auf dem Bergfried werden seltener. Als das Osterfest vergeht und Wolf immer noch nicht wiederkommt, fragt sie nicht mehr nach ihm. Niemand hört sie mehr seinen Namen nennen. In ihren Gedanken aber lebt er weiter, und manchmal, wenn sie in ihrem Bett liegt und das Schnarchen vom Fußende her anzeigt, dass ihre alte Kinderfrau fest schläft, flüstert sie seinen Namen in die Nacht hinaus.
5
Larresoyna 6
D er Wind frischte auf, je näher Juliana der Passhöhe kam. Die Bäume wurden lichter, bis sie einem grasbedeckten Höhenzug wichen, der den Blick über Navarra freigab. Vom Aufstieg glühten ihre Wangen, und der Kittel in ihrem Rücken war schweißnass. Nun fuhr der Wind in ihre Gewänder und ließ sie frösteln. Sie blieb stehen und ließ ihren Blick schweifen. Welch ein Ausblick! Heute konnte man in den Pyrenäen die Wunder der Natur Gottes sehen, die Juliana auf ihrem Weg durch den Nebel verborgen geblieben waren. So stand sie nun auf dem Erropass und blickte staunend zurück zu den Bergen, die sie auf ihren eigenen Füßen überquert hatte.
»Wolf, hast du das gesehen?«, flüsterte sie.
Lange hatte Juliana nicht mehr so intensiv an den Freund aus Kindertagen gedacht wie nun, da sie vielleicht seinen Fußspuren folgte. War er überhaupt so weit gekommen, oder hatten die Wölfe in den Bergen sein Leben ausgelöscht oder ein Wegelagerer oder Krankheit und Schwäche? Hatte er das Grab des Apostels berührt? Aber warum war er danach nicht wieder zur Burg Ehrenberg zurückgekehrt? Fürchtete er den Zorn des Ritters und hatte Angst vor der Strafe? Schämte er sich zu sehr, dass er seine Pflichten weggeworfen hatte, oder wollte er die Freundin nicht wiedersehen, der er sich in seinem jugendlichen Überschwang versprochen hatte?
Immer noch besser, an Wolf zu denken als an ihren Vater. Im Kloster von Roncesuailles hatte sie den Gehilfen des Infirmarius nach ihm gefragt und auch einen der Helfer, die das Pilger-hospital
am Morgen reinigten, aber sie konnten sich nicht an den Ritter von Ehrenberg erinnern. Vielleicht hatte er seinen Namen abgelegt und reiste, wie sie auch, unter dem Schutz eines anderen. Sein Name war durch den Mord entehrt. Möglich, dass er ihn erst wieder tragen wollte, wenn er am Grab des Apostels gesühnt hatte.
Der Gedanke an ihren Vater brachte die Erinnerungen zurück und drängte sie, ihren Weg fortzusetzen. Sie umfasste den Stab und schritt weit aus, den steilen Hang mit seinen immer dichter werdenden Wäldern aus Kiefern und Eichen hinab. Längst hatte die Sonne den Zenit überschritten und sank nun vor ihr in das Tal hinab. Sie überzog die Eichenblätter mit einem warmen Schimmer.
Am Fuß des Berges fühlten sich Julianas Füße heiß an und brannten, und so lenkte sie ihren Schritt zum Ufer des klaren Flüsschens, über das eine steinerne Brücke führte. Mit einem Seufzer der Erleichterung ließ sich Juliana ins Gras sinken, zog Schuhe und Beinlinge aus und streckte die Beine bis über die Waden in das erstaunlich kalte Wasser. Kleine Fische schwammen neugierig herbei. Einer war gar so dreist, an ihren nackten Zehen zu zupfen.
Eine Stimme ließ Juliana aufsehen. Eine Frau in einem grauen Habit mit einem schwarzen Schleiertuch auf dem Kopf beugte sich über die steinerne Brüstung und rief ihr etwas zu. Juliana hob die Hände, um ihr zu zeigen, dass sie nicht verstand. Die Frau nickte, überquerte die Brücke und kam die Uferböschung herab auf sie zu. Noch einmal versuchte sie es in der Sprache, die Juliana nicht verstand, dann wechselte sie ins Französische.
»Das ist nicht gut für deine Füße«, sagte sie. »Sie werden weich und wund, wenn du weitergehst.«
Juliana seufzte. »Ja, ich weiß, aber das kühle Wasser war zu verlockend.« Sie zog die Beine aus dem Wasser und trocknete sie an ihrem Umhang ab.
»Warte eine Weile, ehe du die Schuhe anziehst«, riet die
Fremde und zeigte beim Lächeln erstaunlich weiße Zähne. »Ich heiße Sancha und helfe den Brüdern drüben im Spital. Wir haben nur ein kleines Haus, aber wir nehmen jeden Kranken und Bedürftigen auf, solange es in unseren Kräften steht. Wie heißt du, und wo kommst du her?«
Wie stets war Juliana bei den Fragen nach dem Woher und Warum auf der Hut und antwortete ausweichend.
»Juan«, lächelte die Frau. »Willst du heute
Weitere Kostenlose Bücher