Das Siegel des Templers: Roman (German Edition)
sie entsetzt. »Ich kann das nicht!«
Bruder Marcelo setzte sich vor André auf die Bank, zog den nackten Fuß auf seinen Schoß und nahm ein kurzes, gebogenes Messer vom Gürtel. Bevor der junge Ritter protestieren konnte, hatte er mit einer flinken Bewegung das Fleisch geritzt. Eine zweite Drehung der Spitze förderte einen fast einen Zoll langen Splitter hervor. Blut tropfte auf die braune Kutte, aber das schien den Bruder nicht zu stören. Er kramte in seiner Gürteltasche nach einem Stofffetzen und drückte ihn auf die Wunde.
»Du solltest dir nachher bei Bruder Semeno Kräuter auftragen und den Fuß ordentlich verbinden lassen, dann kannst du morgen sicher weiterziehen. Wenn es dir lieber ist, darfst du aber auch einen Tag bleiben.«
Er schob den Fuß von der Bank und erhob sich. Fassungslos sah André dem Sevienten nach, wie er mit seinem Krug davonging und den anderen Pilgern die Becher füllte.
Juliana tastete nach ihrem Knie. Der Infirmarius von Roncesuailles zumindest hatte sein Handwerk verstanden. Nur noch eine Kruste erinnerte an die Wunde an ihrem Bein, und das Knie war auch nicht mehr geschwollen. Sie hoffte, dass Andrés Wunde ebenso gut heilen würde.
Vorsichtig, damit der Lappen nicht verrutschte, schlüpfte der Ritter aus Burgund in seinen Schuh. »Ich glaube, ich gehe zu diesem Bruder Semeno, nicht dass die Wunde zu schwären beginnt. Und dann suche ich mir eine Matratze! Ich werde heute keinen Schritt mehr auf die Straße machen.« Mit düsterer Miene humpelte er davon. Das Ritterfräulein und der Bettelmönch
blieben zurück. Ein drückendes Schweigen lag zwischen ihnen.
»Also ich gehe an die frische Luft«, sagte Juliana und sprang auf. Der abgestandene Rauch der Fackeln und der Gestank der hier versammelten Pilger wurden ihr unerträglich. Sie hatte das Gefühl, ersticken zu müssen.
»Ich wünsche Euch eine erholsame Nacht.« Hastig verließ sie die Herberge und hoffte, der Mönch würde ihr nicht hinterherkommen. Doch nur sein Blick folgte ihr, bis sie in dem düsteren Gang verschwand.
Juliana verließ den ummauerten Bereich der Tempelritter. Auch das Viertel zwischen Pilgerspital und der eigentlichen Stadt gehörte den Templern. Anders als das lang gestreckte Rechteck von La Puent de la Reyna war der Vorort nur mit einem Wall von Dornbüschen und Palisaden umgeben, die, wie in den Dörfern, das Vieh nachts drin und tagsüber draußen halten sollten. Als Schutz vor einem Angriff taugten sie sicher nicht viel. Vermutlich flüchteten sich die Eigenleute der Templer bei Gefahr hinter die Mauern von Kirche und Spital.
Dagegen war die Stadtmauer, die La Puent de la Reyna schützte, ein beachtliches Bauwerk aus zwei Mauerringen mit einem Graben dazwischen, unzähligen Türmen und vier Toren.
Die beiden Männer, die das Stadttor Suso bewachten, nickten ihr zu, ließen sie aber, ohne Fragen zu stellen, passieren. Das Ritterfräulein schritt die Hauptgasse entlang. Obwohl sie die Fortführung der Landstraße war und in gerader Linie auf die Brücke zuführte, war sie so schmal, dass zwei Ochsenkarren nur mit Mühe einander passieren konnten. So war es nicht verwunderlich, dass die Stimmen der Fuhrknechte, das Knallen von Peitschen und das Gebrüll von Ochsen die Gasse erfüllten. Juliana ließ den Blick an den prächtigen Häusern emporwandern, deren wappengeschmückte Portale erzählten, welche der
zahlreichen Adelsfamilien der Umgebung hier ein Stadthaus besaß. Bald erreichte das Ritterfräulein das Portal der Kirche, deren Turm sie bereits von außerhalb der Stadt gesehen hatte. Das Tor wirkte seltsam fremdartig und doch wundervoll harmonisch, denn es endete nach oben in einem Bogen, der aussah, als bestehe er aus zahlreichen, aneinander gefügten Hufeisen. Es zog sie an, das Kirchenschiff zu betreten.
»So etwas hast du in deiner Heimat sicher noch nie gesehen«, sprach eine heisere Stimme das Mädchen an.
Juliana fuhr herum. Sie hatte die zerlumpte Gestalt gar nicht bemerkt, die im Schatten an der Mauer kauerte. Es war ein Mann, dessen Alter sie nicht schätzen konnte, mit einem fast kahlen Schädel und – wie sie sehen konnte, als er sie angrinste – nur wenigen Zähnen im Mund. Sein rechtes Hosenbein fiel leer und nutzlos auf den Boden herab. Er streckte seine schmutzige Hand aus. Zögernd reichte ihm das Mädchen eine Kupfermünze und die Aprikose, die sie sich bei den Templern in die Tasche gesteckt hatte, schalt sich aber im Stillen des Leichtsinns wegen. Sie hatte kaum
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