Das Siegel des Templers: Roman (German Edition)
noch Geld übrig. Was, wenn sie es später selbst dringend brauchte?
Er ist bedürftiger als du, mahnte ihr Gewissen. Du bist jung und hast zwei Beine. Der heilige Jakob wird auf deinem Pilgerweg für dich sorgen.
Wirklich? Er wusste sicher, dass sie nicht kam, um ihn zu verehren. Warum also sollte er sich die Mühe machen, sich um ihr Wohlergehen zu kümmern?
Die Brüder der verschiedenen Orden am Weg jedenfalls konnten ihr nicht ins Herz sehen und gaben ihr freizügig wie einem echten Pilger auch.
Seltsam, der Gedanke beruhigte sie nicht.
»Ich danke dir. Nach dem Wohin frage ich nicht, denn die Antwort ist bei allen stets die gleiche. Aber das Woher ist immer interessant.«
»Ich komme aus dem deutschen Kaiserreich, vom Neckar in Franken«, gab das Ritterfräulein bereitwillig Auskunft.
»So, so, aus dem Reich von König Albrecht«, sagte der Bettler und wechselte von Französisch zu Deutsch. »Ich wollte dich nicht in deiner Betrachtung stören. Das ist das Hauptportal der Kirche Santiago el Mayor. Nun, kommt es dir seltsam vor? Aber ja, du hast richtig gesehen, es liegt an der Südfassade, nicht wie üblich im Westen. Das wirst du noch bei vielen Pilgerkirchen auf deinem Weg finden.« Der Alte kicherte. »Wäre ja auch zu viel verlangt, wenn die von Osten kommenden Pilger einmal um die Kirche herumlaufen müssten, ehe sie das Prachtportal zu Gesicht bekommen.«
»Es ist sehr schön«, sagte das Mädchen. »Aber irgendwie auch seltsam fremd.«
»Das kommt von den Sarazenen und ihren Hufeisen.«
»Was?«, rief Juliana verwundert.
»Aber ja. Die Kirche ist sehr alt. Ich glaube, sie wurde schon zu der Zeit gebaut, als sich die ersten Franken hier niederließen. König Alfonso el Batallador holte sich die Fremden ins Land. Er war sehr großzügig mit Privilegien, und er gab ihnen das Stadtrecht von Stella 10 , der Sternenstadt, der Prächtigen. Du wirst sie sehen.« Er lächelte und ließ seine verfaulten Zahnstumpen sehen.
»Und was hat das mit den Sarazenen zu tun?«
»Damals war die Reconquista noch das große Ziel, das sich alle Könige auf ihre Fahnen geschrieben hatten. Man lebte sozusagen mit den Sarazenen in Nachbarschaft – wenn auch nicht in guter. Die Ungläubigen haben von jeher die Hufeisenbogen geliebt. Sie waren gute Baumeister, das kannst du mir glauben. Und so haben die Christen manches ihrer Kunst übernommen.«
Juliana verzog das Gesicht. »Bei einer Kirche?«
»Warum nicht?« Der Bettler zuckte mit den Schultern. »Die Kunst des Bauens kennt keine Religion. Sie ist weder gut noch böse. Sie ist höchstens kunstvoll oder schlecht ausgeführt. Ich
selbst habe herrliche Kirchen gebaut«, brüstete sich der Alte. »Große, leichte, Licht durchflutete Gotteshäuser, die bis in den Himmel ragen. – Nun ja, zumindest Teile davon. Mein ganzes Leben lang habe ich auf Kirchenbaustellen zugebracht, seit mir mein Vater mit zwölf Jahren zum ersten Mal Hammer und Meißel in die Hand gelegt hat. Ich war gut, das kannst du mir glauben. Viele Jahre habe ich Bogen und Kapitelle für den gewaltigen Dom von Köln aus den Sandsteinquadern herausgemeißelt. Doch dann begann das Reißen. Erst in den Fingern und dann im Rücken und in den Beinen. Wenn es morgens kalt und feucht war, konnte ich Hammer und Meißel nicht mehr richtig halten. Da hat mir einer geraten, ich solle nach Süden über die Pyrenäen ziehen. Auch dort würden Kathedralen gebaut, und die Sonne verwöhne die Glieder. Ha!«, stieß der Bettler aus. »Welch ein Tor! Sicher war er niemals in Burgos oder León. Der eisige Wind zerrt einem im Winter die Seele aus dem Leib, und man wartet vergeblich auf die milden Lüfte des Frühlings. Und dann, ganz plötzlich, ist der Sommer da und verwandelt das Land in einen Glutofen. So muss sich ein Ziegel fühlen, der nah am Feuer gebacken wird, bis kein Tröpfchen Wasser mehr in seinen Poren ist!« Wider Willen musste Juliana bei dieser Vorstellung lachen.
»Noch lachst du, mein Bürschchen«, schimpfte der Bettler, »aber du wirst an meine Worte denken, wenn du Tag um Tag über die ausgedörrte Meseta wanderst und kein Baum und kein Strauch dich vor der gnadenlosen Sonne und ihrem Dämon, dem Wind, beschützt! Ich weiß es. Ich habe in Burgos Steine behauen. Sie haben dort hohe Pläne und eifern danach, für Gott und seine Herrlichkeit den besten Palast zu errichten. Aber ich denke, weder ich noch du werden es erleben, dass sie den letzten Stein ins Gewölbe setzen.«
»Und wie hat es dich
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