Das Siegel des Templers: Roman (German Edition)
kräftig. Wahrscheinlich wird er uns noch vor Burgos wieder eingeholt haben.« André warf Bruder Rupert einen wütenden Blick zu.
»Ich weiß nicht«, sagte Juliana vorsichtig und senkte den Kopf, um den jungen Reisebegleiter nicht ansehen zu müssen. »Kannst du nicht doch mitkommen? Wenn wir langsam gehen und in Stella zur Nacht bleiben?« Nun sah sie André doch an. Das Flehen in ihrem Blick verfehlte seine Wirkung nicht.
»Nun ja, Bruder Semeno hat nichts dagegen, ich dachte nur…« Er sprach den Satz nicht aus. »Lasst mich nur rasch noch einen Teller Milchsuppe essen, wenn der Servient am Kessel mir einen Nachschlag gönnt.
»Aber ja!« Juliana lächelte André strahlend an. Die beiden anderen Männer am Tisch wirkten dagegen nicht sonderlich erfreut.
Die Sonne stand in schimmerndem Orange eine Handbreit über dem Horizont, als die vier Pilger die Stadt durchquerten. Juliana entdeckte den Steinmetz auf seinem Platz vor der Kirche, kniete sich zu ihm auf die Gasse und gab ihm von ihrer Wegzehrung, die die Templer verteilt hatten. Die anderen gingen bereits weiter auf den Brückenturm zu, während sich das Ritterfräulein von dem Bettler verabschiedete.
»Hast du ein gutes Gedächtnis?«, fragte sie ihn.
»Aber ja«, brüstete sich der Alte, »und scharfe Augen dazu.«
»Kannst du dich an einen Pilger aus Franken erinnern?« Sie beschrieb den Vater so genau wie möglich.
Sebastian nickte ohne zu zögern. »Aber ja, es ist erst drei Tag her, dass er hier bei mir auf der Erde saß und angeregt mit mir sprach.« Der Bettler legte den Kopf schief und kniff die Augen ein wenig zusammen. »Er hatte deine Nase und die Augen – nein, stimmt nicht, sie waren nicht so leuchtend blau wie deine, eher grau.« Juliana erhob sich hastig und klopfte den Staub von den Knien.
»He, du bist ihm aus dem Gesicht geschnitten. Aber sagte er nicht, er vermisse einen Sohn? Er habe nur eine Tochter?« Das Mädchen verabschiedete sich und wandte sich ab.
»Weiß er am Ende gar nichts von dir?« Sie reagierte nicht, sondern strebte über den Platz davon.
»Ah!«, rief Sebastian, so als sei ihm plötzlich etwas eingefallen – oder aufgefallen? »Ich habe scharfe Augen und einen
noch schärferen Verstand«, rief er ihr nach. »Ich wünsche dir, dass du findest, wonach du suchst.«
Das Ritterfräulein passierte das Portal de Puente und lief auf die zur Mitte hin ansteigende Brücke hinaus. Sechs zur Flussmitte hin größer werdende Bogen trugen den steinernen Weg, der Pilger und Händler trockenen Fußes über die Arga führte. Ganz oben, am mittleren der drei Brückentürme, sah sie André, Bruder Rupert und den blonden Ritter de Crest. Sie standen bei einem ältlichen Mann in schmutziger schwarzer Kutte. Juliana konnte seine Tonsur auf dem Hinterkopf sehen. Als ihre Schritte sich der Gruppe näherten, fuhr er herum und funkelte sie an.
»Still, du junger Narr. Man darf den Vogel nicht stören.«
Das Mädchen prallte zurück. Vogel? Was für ein Vogel? André streckte langsam den Arm aus, und ihr Blick wanderte in die angedeutete Richtung. Dort im Schatten des Torbogens, unter dem die Brücke hindurchführte, sah sie eine Marienfigur und auf deren Schulter einen kleinen, graubraunen Vogel sitzen. Er rieb seinen Schnabel an der Wange der Mutter Gottes. Ein Tropfen Wasser rann herab, als ob die Figur weinen würde. Dann erstarrte der Vogel, richtete seine schwarzen Augen auf die Menschen, die ihn betrachteten, breitete die Flügel aus und schwang sich im Sturzflug von der Brücke.
»Dürfen wir jetzt weitergehen?«, brummte Bruder Rupert. Jetzt erst sah Juliana, dass ein kleiner Junge ihnen den Weg versperrte. Das schwarze Haar und die breiten Wangenknochen sprachen davon, dass er Navarrese oder Baske war. Der Junge nickte und gab den Weg frei. Er plapperte etwas Unverständliches. Juliana verstand nur ein Wort, das wie »Tschori« klang. Dann drehte er sich um und rannte in die Stadt zurück. Seine nackten Füße patschten über das Pflaster, während er immer wieder »Tschori« rief und aufgeregt mit den Armen wedelte. Die Pilgergruppe hatte die Brücke noch nicht hinter sich gelassen, da begannen alle Kirchenglocken von La Puent de la Reyna zu läuten.
»Es ist wegen des Vogels«, erklärte der fremde Mönch, der ungewöhnlich groß und mager war, so dass die schwarze Kutte um seinen Leib schlotterte. Er schloss sich der Pilgergruppe an und trat mit ihnen gemeinsam durch das Tor am anderen Ufer.
»Die Menschen
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