Das Siegel des Templers: Roman (German Edition)
nahm ihr den Atem. Juliana keuchte und würgte. In ihren Ohren begann es zu dröhnen. Was war das? Schlug der Türmer Alarm? War ein Feuer ausgebrochen, oder stürmten Feinde heran? Er läutete die Glocken, dass man es in Wimpfen und auf Guttenberg noch hören musste.
Gut so, dachte das Mädchen, holt Hilfe! Rettet mich!
Als habe er ihre Gedanken gelesen, lachte der blonde Ritter schrill. »Dich kann niemand mehr retten. Hörst du es nicht? Sie läuten bereits deine Totenklage ein.« Die Klinge blitzte vor ihren Augen.
Nein!, versuchte sie zu rufen. Was habe ich getan, dass Ihr mich hier niederstechen wollt?, aber kein Laut kam über ihre Lippen. Tränen stiegen ihr in die Augen, und sie blinzelte.
Noch immer reizte ein strenger Geruch ihre Nase, und auch das Dröhnen einer Glocke klang ihr noch im Ohr, Ritter und Leiche waren jedoch verschwunden. Juliana richtete sich auf und
sah sich im Schlafsaal um. Die Glocke auf dem Turm von Santa María de los Huertos verhallte. Der Gestank ging von den vielen Pilgern aus, die hier heute die Nacht verbracht hatten, und von denen einige offensichtlich an Blähungen litten. Das war ihr auf der Reise schon oft begegnet, dennoch brauchte das Ritterfräulein eine Weile, ehe die blutigen Bilder aus ihrem Sinn verschwanden. Sie war in La Puent de la Reyna, in der Pilgerherberge der Tempelritter! Kein Wunder, dass sie von dem Franzosen und seinem dienenden Templerbruder geträumt hatte, die auf Ehrenberg solchen Staub aufgewirbelt hatten. Und der blonde Ritter? Wie passte der in den Traum? Das Gespräch vom Abend zuvor fiel ihr wieder ein und ließ ein unangenehmes Gefühl in ihr aufsteigen. Vielleicht war er schon weg, und sie würde ihm nie wieder begegnen? Im Dormitorium der Pilger konnte sie ihn jedenfalls nicht entdecken.
Ein zarter Lichtschimmer erhellte das Pergament der schmalen Fensterbogen. Die Glocken mussten also bereits zur Prim rufen. Das Mädchen schlug die Decke zurück. Auch die Schläfer in den anderen Betten begannen sich zu rühren. Santa María de los Huertos, dachte Juliana, während sie ihre Beinlinge an der Bruech annestelte. Hatte der Bruder gestern nicht gesagt, Huerta bedeute auf Kastilisch ›Gemüsegarten‹?
»Heilige Maria von den Gemüsegärten«, murmelte sie, als sie die Schuhe schnürte, und musste schmunzeln. Die Verehrung der Heiligen Jungfrau trieb hier noch seltsamere Züge als in Franken oder Schwaben.
Das Mädchen war kaum überrascht, Bruder Rupert mit dem blonden Ritter, der noch vor kurzem ihre Träume vergiftet hatte, an einem Tisch vorzufinden. Die Hoffnung, ihn los zu sein, war nur von kurzer Dauer gewesen. Juliana holte sich eine Schale Milchsuppe, die ein Servient aus einem großen Kessel schöpfte, und setzte sich zu den Männern. Sie löffelte schweigend und lauschte dem Frage- und Antwortspiel der beiden. Offenbar verstand es Bruder Rupert nicht nur ihr gegenüber auszuweichen und seine Geheimnisse zu wahren. Der Blonde
schien ein wenig ungehalten. Dann drehte der Bettelbruder den Spieß herum, und es war an Raymond de Crest, sich gegen dessen Zudringlichkeit zu wehren. Bruder Rupert musste bald einsehen, dass er einen würdigen Gegner gefunden hatte. Mit mürrischer Miene beugte er sich wieder über seine Schale.
»Habt Ihr André heute schon gesehen?«, unterbrach das Mädchen die auf ihnen lastende Stille nach einer Weile. Der Bettelmönch wurde der Antwort enthoben, denn in diesem Moment hinkte der junge Ritter aus Burgund in das Refektorium und ließ sich neben dem Fräulein auf die Bank sinken.
»Geht es deinem Fuß nicht besser?«, erkundigte sie sich.
»Doch schon«, sagte er zögerlich. »Aber ich weiß nicht, ob es klug ist, ihn heute zu sehr zu belasten.«
»Dann solltest du besser einen Tag hier bleiben und dich auskurieren« , schlug Bruder Rupert vor und kratzte sich ausgiebig die Narbe an seinem Hals.
André sah das Ritterfräulein an. »Was denkst du, Johannes, wäre ein Tag Ruhe nicht für uns alle gut?«
Juliana überlegte. Sicher würde ihr Körper eine Pause begrüßen. Sie könnte den alten Sebastian vor der Kirche besuchen, ihm Brot bringen und seinen Geschichten vom Bau des großen Doms in Köln lauschen. Außerdem lockte es sie nicht, mit Bruder Rupert weiterzuziehen und André hier zurückzulassen. Anderseits wurde der Abstand zu ihrem Vater mit jeder Verzögerung größer.
Der Bettelmönch schien ihr Zaudern zu spüren. »Ich finde, wir sollten weitergehen. Unser Freund hier ist jung und
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