Das Sigma-Protokoll
Eine Exekutionsmaschine. Sie haben ganz schön Glück gehabt. Oder besser: Sie waren ganz schön clever. Zu merken, dass da was nicht stimmt... Ihn mit dem Hotelburschen zu verwirren, um sich die nötigen Sekunden Vorsprung zu sichern. Nicht schlecht.«
Er zuckte scheinbar unbeeindruckt mit den Schultern, war aber insgeheim doch stolz auf das überraschende Kompliment. »Was wissen Sie über den Kerl?«
»Ich habe ein Dossier über ihn gelesen, das allerdings sehr viele Lücken hat. Er soll in England leben. In London.«
»Ist er Engländer?«
»Nein. Hat früher für die Stasi gearbeitet. Es gab keine besser ausgebildeten Agenten als die der Stasi. Allerdings auch kaum skrupellosere. Was er nach dem Mauerfall gemacht hat? Keine Ahnung.«
»Warum lebt er in England?«
»Wer weiß? Vielleicht, um sich vor den deutschen Behörden zu verstecken. Wie viele seiner Ex-Kollegen. Wir wissen auch nicht, ob er als >Freier< arbeitet oder für eine einzige Organisation mit sehr breit gestreuten Interessen.«
»Wie heißt er?«
»Vogler, glaube ich. Hans Vogler. Er ist ganz offensichtlich in Wien, um einen Auftrag zu erledigen.«
Einen Auftrag zu erledigen. Und ob! Der Auftrag bin ich. Ben war wie betäubt.
»Sie sagten, dass er vielleicht für eine Organisation arbeitet?«
»Das ist der Standardspruch, wenn wir noch keine Ahnung haben.« Sie schürzte die Lippen. »Sie könnten auch für eine Organisation arbeiten. Und ich meine nicht Hartman Capital Management.«
»Sie glauben mir immer noch nicht, stimmt’s?«
»Wer sind Sie, und weshalb sind Sie hier?«
»Jetzt erzählen Sie mir bloß noch, dass Sie keine Akte über mich haben«, sagte er aufgebracht.
Sie schaute ihn wütend an. »Ich habe lediglich ein paar isolierte Fakten über Sie, die hinten und vorne nicht zusammenpassen. Erstens: Sie kommen nach Zürich, und plötzlich taucht ein Kerl aus Ihrer Vergangenheit auf und versucht, Sie zu töten. Schafft es aber nicht, er wird selbst getötet. Und dann verschwindet auch noch die Leiche. Zweitens: Sie sind illegal in die Schweiz eingereist. Drittens: Das Haus des Bankiers Rossignol, von dem Sie behaupten, er sei schon tot gewesen, als Sie ihn fanden, ist voll mit Ihren Fingerabdrücken. Viertens: Sie tragen eine Waffe, wollen aber nicht sagen, warum, und machen ein Geheimnis draus, woher Sie sie haben.«
Ben hörte schweigend zu.
»Warum haben Sie sich mit Lenz getroffen, dem Sohn eines berüchtigten Nazis?«
Ben überlegte, wie viel er ihr erzählen sollte. Doch bevor er noch den Mund aufmachen konnte, sprach sie weiter. »Folgendes interessiert mich: Was hat Lenz mit Rossignol zu tun?«
Ben kippte den Rest seines Scotch. »Mein Bruder...«, fing er an.
»Der vor vier Jahren gestorben ist?«
»Das hatte ich zumindest geglaubt. Es stellte sich heraus, dass er sich die ganze Zeit vor ziemlich üblen Leuten versteckt hatte. Er hat nie gewusst, wer da eigentlich hinter ihm her war. Und das weiß auch ich bis heute nicht. Irgendein Industriellenzirkel oder deren Nachkommen oder irgendwelche CIA-Söldner. Vielleicht jemand ganz anders - wer weiß? Aber trotzdem hat er es geschafft, diese Namensliste auszugraben...«
Agent Navarros karamellfarbenen Augen wurden groß. »Was war das für eine Liste?«
»Eine sehr alte.«
»Wo hatte er die her?«
»Er hat sie zufällig im Archiv einer Schweizer Bank gefunden.«
»Einer Schweizer Bank?«
»Auf der Liste waren die führenden Mitglieder einer Organisation verzeichnet, die in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs gegründet worden war.«
»O Gott«, flüsterte Anna. »Das ist es also.«
Ben zog ein gefaltetes, verknittertes und verdrecktes Stück Papier aus der Brusttasche und gab es ihr. »Hatte es in meinem Schuh versteckt. Damit es nicht Leuten wie Ihnen in die Hände fällt.«
Sie faltete es auf und betrachtete es mit gerunzelter Stirn. »Max Hartman. Ihr Vater?«
»Ja, leider.«
»Hat er Ihnen von dieser Organisation mal erzählt?«
»Natürlich nicht. Mein Bruder hat es zufällig rausgefunden.«
»Aber war Ihr Vater nicht im KZ?«
»Das ist die Hunderttausend-Dollar-Frage.«
»Hatten Lagerinsassen nicht eine Tätowierung?«
»In Auschwitz ja, in Dachau nein.«
Sie schien über etwas anderes nachzudenken. »Diese geheimnisvolle Mordserie.« Offensichtlich sprach sie mit sich selbst, während sie die Liste betrachtete. »Jeder Name steht auf der Liste. Rossignol, Prosperi, Ramago. Aber nicht alle stehen auch auf meiner Liste.« Sie schaute
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