Das Sigma-Protokoll
die Qualen des Todes. Sigmas bevorzugtes Mittel zur Problemlösung schien Feuer zu sein. »Vielleicht ist es besser, wenn ich allein weitermache«, sagte er sanft zu Anna.
»Nein«, erwiderte sie scharf und schaute mit starrem Gesicht geradeaus. Jedes weitere Wort war überflüssig.
Es war, als ob das gerade Erlebte ihre Entschlossenheit gestärkt hätte, anstatt sie zu schwächen. Sie wollte zu Strasser - koste es, was es wolle. Und sie wollte dem Geheimnis Sigma auf die Spur kommen. Es war verrückt, aber auch er wusste genau, dass er nicht mehr umkehren würde. »Glaubst du, dass wir mit all dem, was wir jetzt wissen, einfach so zu unseren früheren Leben zurückkehren können?«, fragte er. »Glaubst du, man lässt uns?«
Eine Zeit lang herrschte wieder Stille.
»Wir drehen erst mal eine Runde ums Haus«, murmelte sie dann. »Nicht, dass ich denke, wir würden von jemandem erwartet. Vielleicht glauben sie, dass mit Machados Tod die Gefahr vorbei sei.« Er hörte aus ihrer Stimme etwas Hoffnung heraus, war selbst aber nicht so optimistisch.
Das Taxi schlängelte sich quer durch Buenos Aires in Richtung des Nobelviertels Belgrano. Was war das für eine furchtbare Ironie, dachte Ben. Gerade hatte ein guter Mensch sterben müssen, um das Leben eines bösen Menschen zu retten. Er fragte sich, ob auch Anna das schon aufgefallen war. Und wir, was machen wir? Auch wir setzen unser Leben aufs Spiel, um das Leben eines Schurken von historischen Ausmaßen zu retten.
Wird man jemals das Ausmaß dieser Skrupellosigkeit ermessen können?
Er musste wieder an Chardins schauerlichen Monolog denken.
Es war ein kompliziertes Räderwerk... Niemand ist je auf den Gedanken gekommen, dass der Westen von einem geheimen Konsortium beherrscht wurde. Das war unvorstellbar. Wenn das nämlich stimmte, dann wäre ja über die Hälfte der Welt nur die Filiale eines einzigen Megakonzerns gewesen. Sigma.
In den vergangenen Jahren wurde ein ganz besonderes Projekt lanciert. Sollte es Erf olg haben, würde es das Wesen der Weltherrschaft revolutionieren. Es ginge nicht mehr primär um die Zuteilung und Steuerung von Geldmitteln, sondern darum, wer den Sprung in die neue Führungsclique schafft, wer zum ›Kreis der Auserwählten< gehört.
Gehörte Strasser zum >Kreis der Auserwählten Oder war auch er schon tot?
»Ich hab mit Fergus auf den Caymans gesprochen«, sagte Ben. »Er hat die Überweisungen bis nach Wien zurückverfolgt.«
»Wien«, wiederholte sie ausdruckslos.
Sonst kein Wort. Was ihr wohl gerade durch den Kopf ging? Bevor er sie fragen konnte, hielt das Taxi vor einer roten Ziegelsteinvilla mit weißen Fensterläden. Anna sagte dem Fahrer, er solle einmal um den Block fahren. »Vielleicht fällt uns was auf«, sagte sie zu Ben. »Parkende Autos oder verdächtige Fußgänger, die nicht hierher passen.«
Wieder blieb Ben nichts anderes übrig, als ihr zu vertrauen und darauf zu hoffen, dass sie wusste, was sie tat. »Wie wollen wir eigentlich vorgehen?«, fragte er.
»Wir müssen nur bis zu seiner Haustür kommen. Damit wir ihn warnen können; damit wir ihm sagen können, dass er in Lebensgefahr schwebt. Ich hab meinen Ausweis vom Justizministerium dabei. Das reicht hoffentlich aus, damit er uns glaubt.«
»Was ist, wenn das Kameradenwerk oder Vera Lenz oder welches Frühwarnsystem auch immer unseren Besuch schon angekündigt hat? Und was ist, wenn sein Leben gar nicht bedroht ist, weil er selbst nämlich hinter all den Morden steckt? Hast du mal daran gedacht?«
Nach kurzem Schweigen musste sie zugeben: »Das ist tatsächlich ein ernstes Risiko.«
Ein ernstes Risiko . Das war eine grandiose Untertreibung.
»Du hast keine Waffe«, sagte Ben. »Vergiss das nicht.«
»Wenn wir in den ersten paar Sekunden einen glaubwürdigen Eindruck machen, dann hört er sich freiwillig die ganze Geschichte an.«
Und wenn er der Mann hinter den Morden ist?
Nach der Runde um den Block ließ der Taxifahrer sie fünfzig Meter vor dem Haus aussteigen.
Trotz der wärmenden Sonne lief Ben ein kalter Schauer über den Rücken. Auch Anna hatte Angst, das war ihm klar, aber sie zeigte sie nicht. Er bewunderte ihre Willensstärke.
Etwa sieben, acht Meter neben dem Eingang zu Strassers Grundstück stand ein Wachhäuschen auf dem Gehweg. Der Wachmann war ein gebückter alter Mann mit dünnem weißem Haar und einem schlaff herunterhängenden Schnauzbart. Mit der blauen Kappe, die auf seinem Kopf thronte, sah er aus wie eine
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