Das Sigma-Protokoll
voran.
Schließlich erreichte er eine Stelle, wo der Schnee so hoch lag, dass er über die Mauer schauen konnte.
Die glitzernde Schneefläche blendete ihn, und er musste die Augen zusammenkneifen, um etwas erkennen zu können. Das Schloss war ein riesiger verschachtelter Bau, der nicht sonderlich
hoch, aber sehr weitläufig schien. Man hätte es für eine Touristenattraktion halten können, wenn da nicht die uniformierten, mit Maschinenpistolen bewaffneten Wachleute gewesen wären.
Was immer hinter diesen Mauern vor sich ging, es war sicher kein harmloses Forschungsprojekt.
Und dann sah er die Kinder. Dutzende von zerlumpten Kindern liefen im Schnee herum.
Warum waren die Kinder hier?
Das war kein Sanatorium, so viel war klar. Aber was war es dann?
Er stapfte mit den Skiern weiter bergauf, bis er eine Mauerstelle erreichte, von wo er einen besseren Einblick in das Anwesen hatte.
Jetzt sah er, dass es innerhalb des Grundstücks einen nochmals eingezäunten Bereich gab, eine Art Käfig, der etwa so groß war wie ein Häuserblock. Dort standen mehrere große Militärzelte. Eine provisorische Zeltstadt mit Hunderten von Kindern. Auf dem hohen Stahlzaun, der die Zelte umgab, befanden sich Stacheldrahtrollen.
Ein unwirklicher Anblick. Ben schüttelte den Kopf, als wolle er eine optische Täuschung vertreiben. Dann schaute er wieder hin. Hunderte von Kindern. Von Kleinkindern bis zu Teenagern. Unrasierte, halbwüchsige Burschen, die rauchten und sich anpöbelten; Mädchen mit Kopftüchern, die in schäbigen, zerlumpten Kleidern und zerrissenen Mänteln herumstanden. Überall Kinder!
Vor Bens innerem Auge tauchten Fernsehbilder aus Krisengebieten auf. Junge Gesichter, gezeichnet von Armut und Elend. Flüchtlingskinder aus Bosnien, dem Kosovo, Mazedonien, Albanien.
Bot Jürgen Lenz Flüchtlingskindern eine Zuflucht? War er ein Samariter für Not leidende Kinder?
Unwahrscheinlich.
Das war kein Zufluchtsort. Man hatte die Kinder in Zelte gepfercht, sie waren schäbig gekleidet, froren. Sie wurden von bewaffneten Männern bewacht. Das sah aus wie ein Internierungslager.
Dann hörte Ben plötzlich lautes Rufen. Einer der größeren Jungen
hatte ihn entdeckt. Andere riefen ebenfalls, sie winkten ihm zu. Das Rufen wurde immer lauter, immer mehr Arme reckten sich ihm entgegen.
Ben verstand sofort. Sie wollten seine Hilfe. Sie wollten, dass er sie da rausholte.
Ben spürte, wie sich sein Magen zusammenzog. Er begann zu zittern.
Was tat man diesen Kindern an?
Plötzlich hörte er eine laute Männerstimme. Eine der Wachen brüllte ihn an. Richtete eine MP auf ihn. Andere Wachen kamen herbeigelaufen.
Die Botschaft war klar: Verschwinde, oder wir schießen.
In der nächsten Sekunde knatterten Schüsse. Einen knappen Meter links von ihm spritzte Schnee auf. Er warf sich auf den Boden und robbte von der Mauer weg.
Sie meinten es ernst. Und sie verloren keine Zeit.
Die Kinder waren Gefangene. So viel war klar.
Und Anna? War Anna auch hier?
Hoffentlich geht es ihr gut. Hoffentlich lebt sie.
Er sprang auf und machte sich auf den Rückweg.
»Wie ich sehe, sind Sie schon wieder ganz munter«, sagte Lenz mit strahlendem Lächeln. Er ging auf sie zu, blieb am Fußende des Bettes stehen und faltete die Hände vor dem Bauch. »Vielleicht sagen Sie mir jetzt, wem Sie meinen richtigen Namen verraten haben.«
»Verpissen Sie sich!«, fauchte sie.
»Dann eben nicht«, sagte er gleichgültig und schaute auf seine goldene Armbanduhr. »In spätestens dreißig Minuten ist die Wirkung des Ketamins verflogen. Wir werden Ihnen dann intravenös fünf Milligramm eines starken Opioids injizieren. Es heißt Versed. Haben Sie das schon mal bekommen? Vielleicht bei einer Operation?«
Anna schaute ihn ausdruckslos an.
Lenz redete gelassen weiter. »Fünf Milligramm dürfte etwa die passende Dosis sein. Sie entspannen sich, bleiben aber ansprechbar.
Sie werden vielleicht zehn Sekunden lang ein wenig Herzrasen verspüren, doch dann werden sie sich so ausgeglichen fühlen wie noch nie in Ihrem Leben. All Ihre Ängste verflüchtigen sich. Ein herrliches Gefühl.«
Sein Kopf zuckte wie bei einem Vogel ruckartig zur Seite. »Würden wir Ihnen diese Dosis auf einmal verabreichen, dann würde Ihre Atmung aussetzen - was mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Tod führen würde. Deshalb werden wir die Verabreichung über zehn Minuten strecken. Wir wollen ja nicht, dass Ihnen etwas zustößt.«
Obwohl Anna durch die Medikamente noch etwas benebelt
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