Das Sigma-Protokoll
ein übler Geruch in die Nase gestiegen. Dennoch nannte sie ihrer halbwüchsigen, etwas verhuschten Assistentin eine Nummer, und diese zog umgehend die gewünschte Karte aus einer der zahllosen Schubladen. So kompliziert das System aussah, die Bürovorsteherin hatte es offensichtlich im Griff.
Die Karte stammte aus dem frühen 19. Jahrhundert. Als Besitzer fast der gesamten Bergflanke war J. Esterhäzy eingetragen. Überall waren Markierungen eingezeichnet.
»Wofür stehen diese Markierungen?«, fragte Ben und zeigte auf die Karte.
Die alte Frau verzog genervt das Gesicht. »Höhlen«, sagte sie. »Kalksteinhöhlen im Berg.«
Höhlen . Das war eine Möglichkeit.
»Und die Höhlen befinden sich alle auf dem Grundstück, auf dem auch das Schloss steht?«
»Ja, sicher«, erwiderte sie ungeduldig.
Das hieß, sie befanden sich unter dem Schloss, dachte Ben. Hoffentlich merkte ihm keiner an, wie aufgeregt er plötzlich war.
»Könnten Sie mir wohl eine Kopie von dieser Karte machen?«
Sie schaute ihn unfreundlich an. »Das kostet zwanzig Schilling.«
»Einverstanden«, sagte er. »Ach, noch was: Haben Sie vielleicht einen Grundriss vom Schloss?«
Der Bursche, der das Sportgeschäft führte, betrachtete die Karte wie eine unlösbare Algebraaufgabe. Als Ben die Markierungen für die Höhlen erwähnte, nickte er.
»Hab davon gehört. Liegen direkt unter dem Schloss«, sagte er. »Ich glaube, früher konnte man sogar durch die Höhlen ins Schloss gelangen. Muss aber schon lange her sein. Der Eingang ist heute sicher zugemauert.«
»Sind Sie mal drin gewesen? In den Höhlen, meine ich.«
Der junge Mann schaute ihn entsetzt an. »Nein, natürlich nicht.«
»Kennen Sie jemanden, der mal drin war?«
Er dachte kurz nach. »Ja, ich glaube schon.«
»Ob der mir wohl die Höhlen zeigen würde? Was meinen Sie?«
»Kaum.«
»Könnten Sie ihn fragen?«
»Klar, warum nicht. Aber ich würde mir keine allzu großen Hoffnungen machen.«
Ben hatte mit einem jüngeren Mann gerechnet, doch der Mann, der eine halbe Stunde später den Laden betrat, war sicher schon Mitte sechzig. Er war klein, drahtig, hatte Blumenkohlohren, eine lange, unförmige Nase, eine Hühnerbrust und sehnige Arme. Nachdem er ein paar schnelle, wegen des Dialekts kaum verständliche Worte mit dem jungen Geschäftsführer gewechselt hatte, drehte er sich zu Ben um und schaute ihn stumm an.
Ben sagte guten Tag, worauf der Mann nur nickte. Dann zog Ben den jungen Burschen beiseite. »Ich hatte mir eigentlich jemand Jüngeren und Kräftigeren vorgestellt.«
»Sicher gibt’s Jüngere«, sagte der Alte, der anscheinend die
Ohren eines Jungen hatte. »Aber keine Kräftigeren. Und keinen, der sich in den Höhlen besser auskennt. Aber ich weiß ohnehin nicht, ob das das Richtige für mich ist.«
»Kommt man durch die Höhlen ins Schloss?«, fragte Ben.
»Früher ja. Warum wollen Sie da überhaupt rein?«
»Das ist meine Sache.«
»Sie kommen da nicht rein. Das ist jetzt eine Privatklinik.«
»Ich muss. Unbedingt.«
»Warum?«
»Sagen wir, ich habe persönliche Gründe, die mir sehr wichtig sind.« Dann nannte er dem Alten die Summe, die ihm seine Dienste wert waren.
»Dafür brauchen wir aber Spezialausrüstung«, knurrte der Alte. »Können Sie klettern?«
Er hieß Neumann und trieb sich schon länger in den Höhlen von Semmering herum, als Ben auf der Welt war. Außerdem verfügte er über enorme Kräfte, bewegte sich aber gleichzeitig behände und sicher.
Gegen Ende des Krieges, als er acht Jahre alt gewesen sei, hätten sich seine Eltern einer Widerstandsgruppe katholischer Arbeiter angeschlossen, die die Nazis in diesem Teil Österreichs bekämpften. Damals wäre die alte Uhrenfabrik von den Nazis schon beschlagnahmt und in eine Art regionale Parteizentrale umgewandelt worden.
Die Nazis, die im Schloss lebten und arbeiteten, wussten allerdings nicht, dass die Kellergewölbe des Schlosses durch einen Kriechgang mit den benachbarten Kalksteinhöhlen verbunden waren. Die Erbauer und ersten Bewohner hatten das Schloss sogar absichtlich über den Höhlen gebaut, um im Falle eines Angriffs über einen geheimen Fluchtweg zu verfügen. Im Laufe der Zeit war dieser Verbindungsgang jedoch in Vergessenheit geraten.
Während des Kriegs erkannten die Widerstandskämpfer schnell, über welch entscheidenden Wissensvorsprung sie den Nazis gegenüber verfügten. Sie erkannten, dass sie den Verbindungsweg zu Spionage, Sabotage und anderen subversiven
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