Das Sigma-Protokoll
aufzunehmen, hatte er schnell verworfen. Das wäre Selbstmord gewesen.
Sie schnallten sich die Steigeisen unter die Bergstiefel. Die zwölf Zacken unter jeder Vibramsohle würden ihnen ausreichend Halt bieten. Dann legten sie sich die Nylonklettergurte um die Hüfte und waren startklar.
»Dülfersitz, okay?«, sagte Neumann. Dülfersitz war der österreichische Ausdruck für >Abseilen ohne Ausrüstung<. Man musste sich auf das Zusammenspiel von Körper und Seil verlassen.
»Keine Abseilhilfe?«
Neumann lächelte. Bens Unbehagen machte ihm offensichtlich Spaß. »Wozu?«
Ohne Abseilhilfe würde der Abstieg zwar unangenehm werden, andererseits waren sie so nicht fest mit dem Seil verbunden, was beim Abseilen immer eine Gefahrenquelle darstellte.
»Ich geh zuerst runter«, sagte Neumann. Er machte an einem Ende des Seils einen doppelten Achterknoten, zog das Seil zwischen den Beinen unter dem rechten Oberschenkel durch, dann quer über die Brust nach oben und über die linke Schulter auf den Rücken. Rückwärts trippelte er breitbeinig an die Kante, lupfte das Seil etwas, stieß sich ab und verschwand in der Tiefe.
Ben schaute nach unten und sah, wie Neumann langsam vor-und zurückschwang, bis seine Füße festen Halt fanden. Dann ließ er etwas Seil nach, stieß sich wieder ab und schwang wieder ein Stück abwärts. Schließlich hörte Ben das knirschende Geräusch von Geröll und dann Neumanns Stimme: »Okay. Jetzt Sie.«
Wie Neumann trippelte Ben mit dem Seil zwischen den Beinen rückwärts an die Felskante, hielt die Luft an und stieß sich ab.
Das Seil zwischen seinen Beinen straffte sich und erinnerte ihn schmerzhaft daran, warum er den Dülfersitz nie hatte leiden können. Den Oberkörper zurückgelehnt, mit den Füßen nach sicherem Halt tastend und mit den Händen am Seil die Geschwindigkeit regulierend, manövrierte er sich langsam abwärts. Sekunden später sah er unter sich einen elliptischen schwarzen Fleck, den Höhleneingang. Ein paar Meter weiter, und seine Füße schwangen in die Öffnung hinein.
Allerdings war die Landung komplizierter, als er gehofft hatte. Er konnte sich nicht einfach senkrecht abseilen, da die Öffnung mit der Wand bündig abschloss und es unten keinen Felsvorsprung gab.
»Langsam reinschwingen!«, rief Neumann. »In den Berg hinein!«
Ben sah, was er meinte. Neumann stand auf einer schmalen, in den Berg hineinragenden Felsplatte, die Ben treffen musste. Die Platte war höchstens einen halben Meter breit. Ganz am Rand hockte Neumann und hielt sich am Felsen fest.
Leicht vor- und zurückschwingend seilte sich Ben Zentimeter um Zentimeter ab, bis er sowohl die passende Höhe wie auch den passenden Schwung hatte. Er ließ das entscheidende letzte Stück Seil durch die Hände gleiten und landete genau auf der Felsplatte, wobei er den Aufprall mit federnden Knien abfing.
»Sehr gut«, meinte Neumann.
Ben hielt sich am Seil fest, beugte sich leicht vor und schaute hinunter in die schwarze Höhle. Im schräg einfallenden Sonnenlicht glänzte direkt zu seinen Füßen die Gefahr.
Die zwanzig, dreißig sichtbaren Meter fielen steil ab und bestanden aus blankem Eis. Zudem war das Eis nicht hart und trocken, sondern wässerig und glitschig. So etwas hatte er noch nie gesehen.
»Also los«, sagte Neumann, der Bens zweifelnden Gesichtsausdruck bemerkt hatte. »Oder wollen Sie etwa ein Päuschen einlegen?« Besser, man dachte erst gar nicht darüber nach, was einem auf diesem abschüssigen Stück Eis alles zustoßen konnte. »Also los«, wiederholte Ben und hoffte, dass es nicht zu hasenfüßig geklungen hatte.
Sie setzten die ultraleichten Helme auf, zogen die Kinnriemen
fest und befestigten die Stirnlampen an den Helmen. Neumann gab Ben zwei gebogene, aus Karbon hergestellte Hightech-Eispickel mit Handschlaufen. Ben zog sich die Schlaufen über die Handgelenke. Die Pickel baumelten an seinen Armen wie nutzlose Anhängsel.
Neumann nickte ihm zu und drehte sich dann mit dem Rücken zur Höhle. Ben drehte sich ebenfalls um. Er hatte ein flaues Gefühl im Magen. Mit dem ersten Schritt rückwärts verließen sie die schmale Steinplatte. Knirschend bohrten sich die Zacken der Steigeisen ins Eis. Bens Versuche, das Gleichgewicht zu halten, wirkten ziemlich ungelenk. Er hieb die Steigeisen tief ins Eis, um ja nicht den Halt zu verlieren. Nach ein paar Schritten nahm er die beiden Eispickel in die Hände und trieb die Spitzen in die glänzende Oberfläche. Neumann bewegte sich auf
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