Das Sigma-Protokoll
Pfützen, doch die kalte Luft war sehr feucht. Die Angstschübe kamen jetzt immer öfter. Inzwischen war es so eng, dass der Fels bei jeder Bewegung gleichzeitig über Rücken und Bauch schabte.
Er stieß beständig den Rucksack vor sich her. Der Tunnel war jetzt keine vierzig Zentimeter mehr hoch.
Ben saß fest.
Nein, nicht fest. Noch nicht. Obwohl er sich genau so fühlte. Er musste sich durch die Lücke durchquetschen. Sein Herz raste, er hatte höllische Angst.
Das Wichtigste war, nicht in Panik zu verfallen. Panik lähmte das Denkvermögen. Er zwang sich, ein paar Mal langsam und gleichmäßig ein- und auszuatmen. Dann atmete er, um seinen
Brustumfang zu vermindern, komplett aus und presste sich vorwärts.
Schweißnass schob er sich voran, während er versuchte, sich auf das zu konzentrieren, was vor ihm lag, was er im Schloss zu tun hatte. Und warum er das alles tat. Nur nicht an das denken, was ihm die Situation in dieser Sekunde abverlangte.
Es wurde steiler. Er atmete ein und hatte dabei das Gefühl, dass Boden und Decke ihn wie einen Schraubstock zusammendrückten. Die Lungen konnten sich nicht ganz ausdehnen, konnten nicht die volle Menge Luft aufnehmen. Das hatte einen Adrenalinschub zur Folge, der wiederum seine Atmung schneller und flacher werden ließ. Er glaubte zu ersticken.
Nicht nachdenken.
Entspannen.
Es ging nicht.
Niemand wusste, dass er hier unten war. Er war in dieser pechschwarzen Hölle ohne Tag und Nacht lebendig begraben.
Die zweifelnde Stimme seines Ichs rief den mutigeren, den besseren Teil seiner Persönlichkeit auf den Plan. Ben spürte, wie sich sein Herzschlag beruhigte, spürte, wie kühle, köstliche Luft in seine Lungen strömte, spürte die Ruhe, die sich in seinem Körper ausbreitete wie Tinte auf einem Löschblatt.
Gefestigt und gestärkt durch diese innere Gelassenheit war er in der Lage, seinen wund gescheuerten Rücken zu vergessen und sich langsam weiter vorzuarbeiten.
Und plötzlich öffnete sich der Tunnel. Boden, Decke und Wände traten zurück, Bauch, Rücken und Schultern waren wieder frei. Er stützte sich auf die schmerzenden Hände und Knie und setzte den Weg auf allen vieren fort. Kurz darauf befand er sich in einer Grotte, in die von irgendwoher dämmeriges Licht fiel. Er erhob sich, streckte sich und konnte wieder in voller Größe stehen.
Woher kam dieses schwache, weit entfernte Licht?
Obwohl kaum wahrnehmbar, kam es ihm vor wie heller Sonnenschein, beglückte es ihn wie ein strahlender Sommertag.
Direkt vor ihm befand sich der Höhlenausgang. Seine Form hatte tatsächlich Ähnlichkeit mit einem Schlüsselloch. Er kroch eine kleine Geröllhalde hinauf, quetschte sich mit der Schulter
zuerst durch die schmale Öffnung und schaufelte mit beiden Händen so lange Steine zur Seite, bis er sich mit ausgestreckten Armen sicher abstützen konnte.
Und dann sah er es: ein altertümliches Tor, das aus waagerechten, verrosteten Eisenstreben bestand. Es deckte das unregelmäßige Loch im Fels fast so dicht ab wie ein Kanaldeckel. Fast, denn durch einen Spalt unter dem Tor drang ein schmaler Lichtstreifen in den Tunnel.
Ben zog den Dietrich aus der Tasche, steckte ihn ins Schloss und drehte.
Versuchte zu drehen.
Der Dietrich bewegte sich keinen Millimeter.
Das Schloss war anscheinend eingerostet. Seit Jahrzehnten saß das Schloss unberührt in dieser Tür. Es war vollkommen logisch, dass es sich in einen Klumpen Rost verwandelt hatte. Er versuchte es noch mal. Nichts.
»Bitte nicht!«, rief Ben laut.
Er war am Ende.
Daran hatten weder er noch Neumann gedacht.
Er hatte keine andere Chance, diese Tür zu überwinden, als mit dem Dietrich. Selbst wenn er Werkzeug gehabt hätte - das Tor war in massiven Fels eingelassen. Was blieb ihm? Wieder zurückkriechen?
Er hatte eine Idee. Vielleicht war eine der Streben so verrostet, dass er sie herausbrechen konnte. Er klopfte und trat gegen die Streben, bis ihm Hände und Füße schmerzten. Es hatte keinen Zweck. Der Rost war nur äußerlich, die Streben selbst bestanden aus massivem Eisen.
Verzweifelt rüttelte er an den Streben. Er führte sich auf wie ein durchgedrehter Lebenslänglicher in San Quentin. Plötzlich hörte er ein metallisches Knirschen.
Eine der Türangeln war abgebrochen.
Wie ein Wahnsinniger rüttelte er weiter an den Streben. Das nächste Scharnier brach, und schließlich fiel auch die dritte und letzte Türangel herunter.
Er packte das Tor an den Seiten, hob es hoch und drückte es
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