Das Sigma-Protokoll
der abschüssigen glatten Fläche, als stiege er eine Treppe hinunter. Eine Bergziege wäre nicht sicherer unterwegs gewesen.
Ben dagegen rutschte mehr oder weniger bäuchlings abwärts. Wie eine Spinne sah er aus, wenn er abwechselnd die Pickelspitzen und die Zacken der Steigeisen ins Eis bohrte und mühsam Meter um Meter hinter sich brachte. Schließlich gelang ihm das immer besser, doch da hatten sie den Eisabhang schon überwunden und standen auf Kalkstein.
Sie nahmen die Steigeisen ab, verstauten sie zusammen mit den Eispickeln in den Rucksäcken und setzten den Weg fort.
Es ging jetzt gleichmäßig abwärts; der Weg schraubte sich wie eine Wendeltreppe in den Fels hinein. Im Schein seiner Helmlampe sah Ben zahllose Gänge, die von ihrem Pfad abzweigten - Gänge, die für Ben alle gleich aussahen. Ohne Neumann wäre er verloren gewesen. Hier gab es keine roten Farbmarkierungen, die einem die Richtung wiesen. Anscheinend hatte Fritz Neumann das alles in seinem Hirn gespeichert.
Es kam Ben wärmer vor als draußen, doch das täuschte. Das Eis an den Wänden bewies, dass die Temperatur unter dem Gefrierpunkt lag. Und das Wasser, das auf dem Boden abwärts tröpfelte, würde dafür sorgen, dass sie die Kälte schon sehr bald zu spüren bekämen. Außerdem herrschte eine hohe Luftfeuchtigkeit.
Der Boden bestand aus Geröll, durch das sich kleine Rinnsale
abwärts schlängelten. Hin und wieder, wenn sich die Bodenbeschaffenheit änderte, wäre er fast gestürzt. Der schmale Gang verbreiterte sich schließlich zu einem breiten Stollen. Neumann blieb stehen, drehte sich langsam um und beleuchtete mit seiner Helmlampe die atemberaubenden Gesteinsformationen. Manche der Stalaktiten wirkten so zerbrechlich wie Strohhalme; schlank und grazil strebten sie dem Boden zu und verjüngten sich so stark, dass ihre Enden Stricknadelspitzen glichen. Die Stalagmiten, ringförmig nach oben wachsende Kalksteinstümpfe, verbanden sich gelegentlich mit den Stalaktiten zu massiven Säulen. Wasser sickerte an den Wänden hinunter und tropfte von den Stalaktiten. Das Tropfgeräusch des sich in Bodensenken sammelnden Wassers war das einzige Geräusch in der unheimlichen Stille. Aus verhärtetem Schmelzgestein hatten sich Terrassen gebildet. Gezackte, scharfe Platten aus milchigem Kalkstein hingen wie schwere Vorhänge von der Decke. Der scharfe Ammoniakgeruch von Fledermauskot stach in die Nase.
»Da!«, sagte Neumann und deutete auf das vollkommen erhaltene Skelett eines Bären. Plötzlich erhob sich eine Wolke von Hunderten papierdünnen Fledermausflügeln. Ben und Neumann hatten die schlummernden Tiere aufgeschreckt.
Ben begann zu frösteln. Er konnte sich zwar nicht vorstellen, wie das bei der perfekten Ausrüstung hatte passieren können, aber auf jeden Fall waren seine Socken nass geworden.
»Kommen Sie«, sagte Neumann. »Hier lang.«
Er betrat einen der zahlreichen schmalen Gänge, die von dem breiten Stollen abzweigten. Der Boden stieg jetzt leicht an, und der Weg verengte sich wie ein Flaschenhals. Die Decke hatte sich fast bis auf Bens Größe gesenkt, war also kaum höher als eins achtzig. Die Wände waren jetzt wieder mit einer Eisschicht überzogen, und auf dem Boden sammelte sich eiskaltes Wasser.
Bens Zehen waren inzwischen gefühllos. Während Neumann die steile Röhre mit verblüffender Behändigkeit bewältigte, stakste Ben ungeschickt über die Steine und hatte bei jedem Schritt Angst vor einem Sturz.
Glücklicherweise wurde der Weg allmählich flacher und schließlich fast eben. »Wir sind jetzt ungefähr auf Höhe des Schlosses«, sagte Neumann.
Und plötzlich war Schluss. Sie standen vor einer nackten Wand, vor der ein Haufen Gesteinsbrocken lag - anscheinend die Überreste einer Mauer.
»Und was jetzt?«, fragte Ben und schaute ängstlich zu Neumann.
Ohne Ben einer Antwort zu würdigen, stocherte Neumann mit dem Schuh so lange in dem Geröll herum, bis er eine etwa einen Meter lange rostige Eisenstange freigelegt hatte. Er grinste zufrieden, während er sie aufhob.
»Unberührt«, sagte Neumann. »Gut für Sie. Liegt seit damals hier, ohne dass einer drüber gestolpert wäre.«
»Wovon reden Sie überhaupt?«
Neumann schob die Stange unter einen Felsbrocken und stützte sich mit seinem ganzen Gewicht auf das hintere Ende. Langsam bewegte sich der Brocken zur Seite. Dahinter kam ein kleiner, etwa einen halben Meter hoher und einen Meter breiter Durchschlupf zum Vorschein.
»Das war quasi die letzte
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