Das Sigma-Protokoll
Jetzt hob er den Kopf und schaute Ben ins Gesicht. »Verstehst du, was ich sagen will? Diese Überlebenden waren keine geldgierigen Geier. Sie wollten einen Schlusspunkt setzen, und sie wollten Gerechtigkeit. Sie wollten die Verbindung mit ihren Eltern und mit ihrer Vergangenheit herstellen. Und einfach das bisschen Geld sicherstellen, das man zum Leben eben braucht.« Er schaute das schwarze Fenster an. »Obwohl ich der rechtmäßige Vertreter der alten Dame war, hat mir die Schweizer Bank nichts als Schwierigkeiten gemacht. Sie sagten, sie hätten keine Aufzeichnungen über ein derartiges Konto. Die übliche Geschichte. Gottverdammte Banker - diese analfixierten Sesselfurzer
heben jeden Scheißfetzen Papier seit Beginn der Zeitrechnung auf, und dann ist ausgerechnet dieser Kontoauszug nicht mehr auffindbar. Aber schließlich bin ich auf diesen Sicherheitsmenschen gestoßen, der früher mal für die Bank tätig gewesen war. Die hatten ihn gefeuert, weil er mitgekriegt hat, dass Bankangestellte nachts massenweise Unterlagen aus den Vierzigern durch den Schredder jagten. Ein Stapel Dokumente und Bücher hat er aber abzweigen können.«
»Kann mich vage daran erinnern, was davon gelesen zu haben«, sagte Ben. Die Wirtin stellte eine Espressokanne und ein Kännchen mit aufgeschäumter Milch auf den Tisch, schaute Ben und Peter griesgrämig an und verschwand ohne ein Wort.
»Die Schweizer Behörden fanden das natürlich gar nicht lustig«, sagte Peter. »Verletzung des Bankgeheimnisses, blablabla, der übliche scheinheilige Scheißdreck. Dass da Dokumente durch den Schredder gejagt wurden, das spielte keine Rolle. Ich hab mich also auf die Suche gemacht und den Kerl tatsächlich in Genf aufgespürt. Er besaß die Unterlagen noch, obwohl die Bank natürlich alles versucht hatte, um sie zurückzukriegen. Ich konnte sie mir anschauen.«
»Und?« Ben fuhr mit einer Gabel das Muster der Tischdecke entlang.
»Nichts, was mir im Interesse der alten Dame weitergeholfen hätte. Auch später hab ich nie was darüber erfahren. Aber in einem der Bücher hab ich was anderes gefunden. Und das hat mich umgehauen. Eine Gründungsurkunde mit allem Drum und Dran: rechtsgültig ausgefertigt, notariell beglaubigt, unterzeichnet.«
Ben sagte nichts.
»Die Gründung einer Organisation gegen Ende des Zweiten Weltkriegs.«
»Irgendeine Nazigeschichte?«
»Nein. Ein paar Nazis waren zwar auch dabei, aber die Mehrheit der Mitglieder waren nicht mal Deutsche. Wir reden von einer Art Gremium, das mit einigen der mächtigsten Industriellen der Zeit besetzt war. Industriebosse aus Italien, Frankreich, Deutschland, England, Spanien, Kanada und den USA. Die Namen hast sogar du schon mal gehört, Benno. Die Bel Etage des Weltkapitalismus.«
Ben versuchte sich zu konzentrieren. »Du hast doch gesagt >gegen Ende des Zweiten Weltkriegs<, oder?«
»Genau. Anfang ʹ45.«
»Zu den Gründern dieser Organisation gehörten auch Deutsche?«
Peter nickte. »Es handelte sich um eine Geschäftsbeziehung, die über alle Feindesgrenzen hinweg verlief. Überrascht dich das etwa?«
»Aber wir waren noch im Krieg...«
»Was meinst du mit >wir<, mein Freund? Das Geschäft Amerikas ist das Geschäft. Hat dir das noch nie einer verklickert?« Peter lehnte sich zurück. Seine Augen leuchteten. »Also, erst mal das, was unbestritten und nachprüfbar ist. Standard Oil aus New Jersey und die deutsche IG Farben hatten den Markt praktisch unter sich aufgeteilt. Sie legten die Monopolgebiete für Öl und chemische Produkte fest, teilten sich die Patente, machten praktisch alles zusammen. An Standard Oils Zapfhahn hat der ganze gottverdammte Krieg gehangen. Da hatten die Militärs nicht mehr viel zu melden. Aber was, wenn die Firma Nachschubprobleme bekam? Ganz nebenbei: Damals hat John Foster Dulles höchstpersönlich bei der IG Farben mitgemischt. Dann Ford. Rat mal, wer die Fünf-Tonnen-Laster gebaut hat, die die Hauptlast der deutschen Militärtransporte getragen haben? Richtig, Ford. Und die Hollerith-Maschinen, mit denen Hitler auf unglaublich effiziente Weise all die ›unerwünschten Subjekte< erfassen konnte? Gebaut und gewartet von Big Blue, den Jungs von IBM - ein Toast auf Tom Watson. Und natürlich ITT, ein großer Anteilseigner von Focke-Wulf, der Firma, die die meisten deutschen Bomber produziert hat. Ich hab da noch eine nette Geschichte für dich. Nach dem Krieg hat ITT die amerikanische Regierung auf Schadenersatz verklagt, weil alliierte Bomber
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