Das Sigma-Protokoll
der Körper wie festgefroren auf dem Boden verharrte. Ihm war, als trennte man ihm den Kopf vom Rumpf.
Erinnerungen stürzten auf ihn ein. An die Trauerfeier auf dem kleinen Friedhof in Bedford. An den Rabbi, der die Kaddisch, das Totengebet, sang: Jitgadal vejitkadasch schʹmei rabah... An den kleinen Holzsarg mit den sterblichen Überresten. An seinen Vater, der beim Herablassen des Sarges völlig die Fassung verlor und, die Fäuste verkrampft, laut stöhnend zusammenbrach.
Ben kniff die Augen zusammen. Immer mehr Erinnerungen... Der Anruf mitten in der Nacht. Die Autofahrt zu seinen Eltern nach Westchester; am Telefon hatte er es ihnen nicht sagen können. Mama, Papa, ich habe schlimme Nachrichten über Peter. Sein Vater schlief in seinem riesigen Bett; es war vier Uhr morgens, eine Stunde, bevor er normalerweise aufstand. Im Nebenzimmer lag seine Mutter, in einem Krankenhausbett. Auf der Couch döste die Nachtschwester.
Zuerst die Mutter. Das erschien ihm richtig und logisch. Ihre Liebe zu den Jungen war unkompliziert und bedingungslos.
Sie flüsterte: »Was ist los?«, und schaute Ben verständnislos an. Sie wirkte abwesend, er schien sie mitten aus einem Traum gerissen zu haben. Ich habe gerade einen Anruf aus der Schweiz bekommen, Mama. Ben beugte sich vor und legte ihr sanft eine Hand auf die Wange - so als wollte er die Wucht der Nachricht abfedern.
Der lange heisere Schrei weckte Max, der kurz darauf ins Zimmer
geschlurft kam. Ben wollte seinen Vater umarmen, doch der hatte für derlei Vertraulichkeiten nie viel übrig gehabt und sträubte sich. Ben roch den schlechten Atem. Die wenigen grauen, stumpfen Haare standen kreuz und quer vom Kopf ab. Es ist ein Unfall passiert. Peter... In solchen Situationen verfallen wir gern in Klischees. Sie haben etwas Vertrautes; in ihren ausgetretenen Spuren kann man sich leicht und gedankenlos bewegen.
Zuerst reagierte Max anders, als Ben erwartet hatte: Der Gesichtsausdruck des alten Mannes war ernst, in seinen Augen spiegelte sich Zorn, nicht Trauer. Lautlos öffnete er seinen Mund. Langsam schüttelte er den Kopf und schloss die Augen. Tränen liefen ihm über die blassen, zerfurchten Wangen. Dann brach er zusammen. Nie hatte Ben ihn so verletzlich, klein, schutzlos gesehen. Die Kraft des eindrucksvollen, jederzeit kontrollierten Mannes im perfekt sitzenden Maßanzug war dahin. Vater und Mutter weinten jeder für sich, zwei Inseln des Kummers.
Jetzt kniff Ben die Augen zusammen, rang nach Luft, riss die Augen wieder auf und streckte die Arme nach seinem Bruder aus. Er musste ihn berühren, um sich zu beweisen, dass das kein Hirngespinst war.
»Na, Bruderherz?«, sagte Peter.
»Mein Gott«, flüsterte Ben. Ihm war, als blickte er ein Gespenst an. Dann holte Ben tief Luft und umarmte seinen Bruder. Er erdrückte ihn fast. »Du verdammter Scheißkerl!«
»Ist das alles, was du zu sagen hast?«, fragte Peter.
Ben ließ seinen Bruder los und schaute ihm ins Gesicht. »Was zum Teufel...«
Peters Gesicht war wie versteinert. »Du musst weg. Du musst, so schnell es geht, das Land verlassen. Sofort!«
Bens Augen füllten sich mit Tränen. »Du verdammter Scheißkerl!«, stöhnte er.
»Du musst sofort raus aus der Schweiz«, sagte Peter. »Sie haben schon versucht, mich zu schnappen. Jetzt sind sie auch hinter dir her.«
»Was zum Teufel...?«, wiederholte Ben tonlos. »Was ist das für ein kranker, perverser Scherz? Mama ist wegen dir... Du hast
sie umgebracht.« Wut kochte in ihm hoch. Das Blut schoss ihm in die Wangen. Die beiden saßen sich auf dem Teppich gegenüber und starrten sich an: eine unbewusste Neuinszenierung ihrer frühen Kindheit, als sie sich stundenlang gegenübergesessen und in ihrer erfundenen Sprache, ihrem nur ihnen verständlichen Geheimcode aufeinander eingebrabbelt hatten. »Was zum Teufel soll das alles bedeuten?«, fragte Ben.
»Scheinst dich über das Wiedersehen ja nicht gerade zu freuen, Benno«, sagte Peter.
Peter war der Einzige, der ihn Benno nannte. Ben stand auf, und auch Peter erhob sich.
Wie schon früher, hatte er auch jetzt ein komisches Gefühl, als er seinem Zwillingsbruder ins Gesicht schaute: Ihm fielen immer nur die Unterschiede auf. Dass eines von Peters Augen größer als das andere war; der unterschiedliche Schwung der Augenbrauen; dass Peters Mund breiter war als seiner, die Mundwinkel weiter nach unten gezogen; dass Peter insgesamt einen ernsteren, strengeren Eindruck machte als er. In Bens Augen sahen sie
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