Das Sigma-Protokoll
einzige Grund. Wenn ich gewusst hätte, dass sie nur mich töten wollen und dann alles vorbei gewesen wäre, hätte ich sie machen lassen. Aber ich wusste, dass sie sich auch die Familie vornehmen würden. Mit Familie meine ich dich und Mutter. Vater ist für mich schon vor vier Jahren gestorben.«
Um Ben drehte sich alles. Die Freude über das Wiedersehen und die Wut über die Täuschung machten ihn irre. Er konnte kaum noch klar denken. »Worüber redest du eigentlich? Ich will jetzt endlich Klartext hören.«
Peter schaute aus dem Seitenfenster. Etwas zurückversetzt von
der Straße sah man die von einem Halogenscheinwerfer angestrahlte Eingangstür zu einem Gasthaus.
»Fünf Uhr. Vielleicht haben wir Glück, und es ist schon jemand wach.«
Er stellte den Pick-up zwischen ein paar Bäumen ab, sodass man ihn von der Straße nicht sehen konnte. Sie stiegen aus. Die Luft kurz vor Anbruch des Tages war kalt. Außer einem leisen Rascheln, das wahrscheinlich von einem Tier aus dem Wald hinter dem Haus stammte, war nichts zu hören. Peter öffnete die Tür, und sie betraten die kleine Rezeption. Über dem Empfangstresen flackerte eine Leuchtstoffröhre. Es war niemand zu sehen. »Licht brennt, aber keiner da«, sagte Peter. Ben musste grinsen. Das war einer der Lieblingssprüche seines Vaters. Er wollte gerade die kleine Metallglocke betätigen, als sich die Tür hinter der Theke öffnete und eine rundliche Frau erschien. Sie band sich den Bademantel über dem Bauch zusammen und blinzelte ärgerlich ins Licht. »Ja?«
»Entschuldigen Sie bitte, dass wir so früh stören, aber hätten Sie wohl einen Kaffee für uns?«, fragte Peter.
»Kaffee?«, fragte die Frau ungläubig und verärgert. »Sie haben mich geweckt, weil Sie Kaffee wollen?«
»Tut mir Leid, dass wir Ihnen Umstände machen. Wir sind müde und möchten etwas Kaffee, der uns wieder auf die Beine hilft.«
Die mürrische Wirtin schlurfte kopfschüttelnd in ein kleines Speisezimmer, machte Licht und beäugte die beiden mit dem neugierigen Blick, den die Leute eineiigen Zwillingen immer zuwerfen. Dann verschwand sie in die Küche.
Das Speisezimmer war klein und gemütlich. Das große Fenster, an dem kein Vorhang hing, bot tagsüber sicher einen herrlichen Blick auf den Wald. Jetzt war es lediglich ein großes schwarzes Rechteck. Auf den fünf runden Tischen war schon für das Frühstück eingedeckt: Auf gestärkten weißen Tischtüchern standen Teller, Kaffeetassen, Saftgläser und kleine Metallschalen mit braunem Würfelzucker. Peter setzte sich vor das Fenster an einen Zweiertisch. Ben ließ sich ihm gegenüber nieder.
Das Geschirr beiseite schiebend, stützte sich Peter auf beide Ellbogen. »Erinnerst du dich noch, als diese Geschichte mit den Schweizer Banken und dem Nazigold aufgekommen ist?«
»Klar.« Was sollte das jetzt wieder?
»Das war, kurz bevor ich aus Afrika zurückgekommen bin. Ich habe das damals in den Zeitungen genau verfolgt. Wahrscheinlich hat’s mich interessiert, weil Vater in Dachau war.« Ein boshafter Zug spielte um seinen Mund. »Egal, auf einmal hatte eine nette kleine Interessengruppe jede Menge Arbeit. Alle möglichen Winkeladvokaten kamen auf die glorreiche Idee, mit den alten Holocaust-Überlebenden, die ihren verschwundenen Familienvermögen auf die Spur kommen wollten, ihren Schnitt zu machen. Irgendwo habe ich die Geschichte dieser alten Frau aus Frankreich gelesen, einer Überlebenden der Konzentrationslager. Irgendeine Ratte von Anwalt hatte ihr erzählt, dass er Informationen über ein inaktives Schweizer Bankkonto ihres Vater hätte. Der Kerl hat sie fast um ihre gesamten Ersparnisse gebracht; hat ihr erzählt, dass er vorab Geld braucht. Untersuchungen, damit er die Bank verklagen kann, die ganze Scheiße eben. Die alte Dame hat bezahlt. Insgesamt fünfundzwanzigtausend Dollar, fast alles, was sie hatte; Geld, das sie zum täglichen Leben brauchte. Der Anwalt ist natürlich spurlos verschwunden. Das hat mich fertig gemacht, ich konnte es einfach nicht ertragen, wie man die alte Frau beschissen hat. Ich habe sie angerufen und ihr gesagt, dass ich mich auf die Suche nach diesem Konto machen würde - ohne was dafür zu verlangen. Nachdem man sie gerade erst ausgenommen hatte, war sie natürlich misstrauisch. Wir haben eine Zeit lang geredet, und schließlich hat sie mir geglaubt, dass ich an dem Geld, das sie noch hatte, nicht interessiert war.«
Während seiner Erzählung hatte Peter das Tischtuch angestarrt.
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