Das Sigma-Protokoll
völlig unterschiedlich aus, für alle anderen waren die Unterschiede kaum zu erkennen.
Die plötzliche Erkenntnis, wie sehr er Peter vermisst, was für eine Wunde seine Abwesenheit gerissen hatte, traf ihn wie ein Schlag in die Magengrube. Es kam ihm vor, als sei er verstümmelt, verkrüppelt gewesen.
Während all der Jahre ihrer Kindheit waren sie Widersacher, Konkurrenten, Gegenspieler gewesen. Ihr Vater hatte sie so erzogen. Aus Angst, der Reichtum könnte sie verweichlichen, hatte ihr Vater sie zum »charakterbildenden« Survivaltraining in so ziemlich jedes Camp gehetzt, das es gab. Camps, in denen man tagelang nur mit Wasser und Gras überleben musste, in denen man Bergsteigen, Kanu- und Kajakfahren lernte. Ob das Max’ Absicht gewesen war oder nicht, jedenfalls hatte es aus den beiden Jungen Konkurrenten gemacht.
Erst die Highschoolzeit, die sie in verschiedenen Schulen verbrachten, ließ diesen Wettkampfgedanken verblassen. Die Trennung - auch die von den Eltern - führte schließlich dazu, dass die Jungen sich nicht mehr als Gegner betrachteten.
»Lass uns abhauen«, sagte Peter. »Hoffentlich hast du dich
nicht unter deinem richtigen Namen eingetragen. Dann sind wir nämlich am Arsch.«
Peters Pick-up, ein verrosteter Toyota, starrte vor Dreck. Auf den fleckigen Sitzen lag Abfall, und es roch nach Hund. Der Wagen stand im Dickicht versteckt etwa fünfzig Meter vom Haus entfernt.
Ben erzählte Peter die Tunnelgeschichte. »Aber das ist noch nicht alles«, sagte er. »Ich glaube, dass man mich schon den ganzen Weg verfolgt. Von Zürich bis hierher.«
»Ein Typ in einem Audi?«, fragte Peter, während er den altersschwach röhrenden Toyota auf die dunkle Landstraße lenkte.
»Ja.«
»Um die fünfzig, lange Haare, hinten zusammengebunden, wie ein alter Hippie?«
»Genau.«
»Das ist Dieter. Mein persönlicher Schnüffler. Mein drittes Auge.« Er wandte sich Ben zu und lächelte. »Mein Schwager, könnte man sagen.«
»Was?«
»Liesls älterer Bruder und Beschützer. Hat sich erst vor kurzem dazu durchringen können, mich als gut genug für seine Schwester zu akzeptieren.«
»Super-Experte. Ich hab ihn reingelegt, hab ihm sein Auto geklaut. Und ich bin blutiger Amateur.«
Peter zuckte mit den Schultern. Hin und wieder schaute er sich um. »Unterschätz Dieter nicht. Er war dreizehn Jahre bei der Spionageabwehr der Schweizer Armee. In Genf. Ob du ihn siehst oder nicht, war ihm ziemlich egal. Er war quasi der Überwacher der Überwacher. Reine Vorsichtsmaßnahme. Seit wir wussten, dass du im Land bist, ist er dir auf den Fersen gewesen. Sollte sicherstellen, dass man dich nicht entführt oder tötet. Das war kein ziviler Polizeiwagen, der hinter dem Tunnel deinen Arsch gerettet hat. Mit dem Blaulicht hat Dieter die anderen verjagt. Das sind knallharte Profis.«
Ben seufzte. »Knallharte Profis! Jetzt sind sie auch hinter dir her. Sie, sie. Verdammt, wer ist sie ?«
»Sagen wir einfach >die Organisation‹.« Peter schaute in den
Rückspiegel. »Scheiße, kein Mensch weiß genau, wer die eigentlich sind.«
Ben schüttelte den Kopf. »Und ich hab geglaubt, dass ich spinne. Dabei bist du nicht mehr ganz dicht.« Er spürte wieder Wut in sich aufsteigen. »Du Scheißkerl. Dieser Unfall... Irgendwas an der Sache ist mir immer faul vorgekommen.«
Als Peter nach einigen Sekunden antwortete, schien er zerstreut zu sein. Er sprach abgehackt. »Ich hatte die ganze Zeit Angst davor, dass du herkommst. Ständig musste ich höllisch aufpassen. Die waren, glaube ich, nie richtig davon überzeugt, dass ich tot bin.«
»Würdest du jetzt bitte die Freundlichkeit haben, mir zu erklären, worum es hier eigentlich geht?«, blaffte Ben ihn an.
Peter schaute geradeaus auf die Straße. »Ich weiß, dass es furchtbar war, was ich da inszeniert habe. Aber ich hatte keine Wahl.«
»Vater hat sich nie davon erholt, und Mutter...«
»Ich weiß, was mit Mutter passiert ist. Du brauchst mir nicht extra...« Er hielt inne und sprach mit harter Stimme weiter. »Und was Vater angeht... das ist mir scheißegal.«
Überrascht schaute Ben ihn an. »Das hast du ja auch hinlänglich bewiesen.«
»Ein schlechtes Gewissen hab ich nur wegen dir und Mutter. Ich wusste, was ich euch beiden damit antue. Ich hätte nichts lieber getan, als euch anzurufen und die Wahrheit zu erzählen. Das kannst du mir glauben.«
»Und? Erzählst du mir jetzt, warum du nicht angerufen hast?«
»Ich wollte euch schützen, Benno. Das ist der
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